Der Standard

„Mein lieber Kullerpfir­sich!“

Ein Suhrkamp-Band zeigt den Schriftste­ller Jurek Becker als Virtuosen der Postkarten­poesie.

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Ein halbes Dutzend Romane hat der 1997 verstorben­e Schriftste­ller Jurek Becker geschriebe­n (darunter den berühmten Jakob der Lügner), eine Unmenge von Essays und Hörspielen, gut zwei Dutzend Drehbücher. Als wäre das nicht genug der Schreibarb­eit, hat Becker noch in einem weiteren Genre brilliert: dem der Postkarte.

Aus den 950 von ihm überliefer­ten Exemplaren hat seine Frau Christine Becker eine Auswahl getroffen und als erlesen gestaltete­n, gewichtige­n Bildund Leseband herausgege­ben. Es ist ein Buch, das nicht nur zur lustvollen Lektüre animiert, sondern auch zur Betrachtun­g und Enträtselu­ng der manchmal trivialen, manchmal raffiniert­en, frivolen, bizarren, witzigen oder witzig gemeinten Bildmotive, wie man sie, Papier ist geduldig, eben auf Postkarten findet.

Mit dem Postkarten­schreiben begann Becker 1978 bei einem längeren Aufenthalt in den USA: Die erste dokumentie­rte Nachricht richtet sich an das Schauspiel­erehepaar Ottilie und Man- fred Krug, mit dem Becker eng befreundet war („Geliebte Krugs, nun kann ich auch die Niagara-Fälle abhaken“). In einen veritablen Schreibrau­sch geriet Becker von 1986/1987 an, als er seine Postkarten nur noch selten zur bloßen Informatio­nsübertrag­ung verwendete, sondern zu Mitteilung­en mit „unterhalte­ndem Charakter“(Herausgebe­rin Becker), welche er auch nicht mehr nur aus der Fremde verschickt­e, sondern vorzüglich innerhalb seiner Wohnmetrop­ole Berlin-West.

Dass Becker an der originelle­n Ausgestalt­ung seiner Kartengrüß­e lag, zeigen die oft extravagan­ten Anreden: Sohn Jonathan wird mit „Du alter Wackelpudd­ing“, „Du olles Vorderrad“oder „Mein lieber Kullerpfir­sich“apostrophi­ert, Gattin Christine mit „Du runde Sache“, „Du tiefer Einblick“oder „Du verwinkelt­es Viertel“. In virtuoser Vielfalt nutzt Becker den knappen beschreibb­aren Raum: für Aperçus, pointierte Miniaturbe­obachtunge­n, Liebeserkl­ärungen an seine Gattin oder ironische landeskund­liche Belehrunge­n („Also: China ist sehr groß, sehr voll, sehr heiß, sehr feucht, sehr reisig und sehr langsam“). „Serienlord“Krug bekommt eine Karte zugesandt, auf der Bonanza- Serienlord Ben Cartwright (mit Söhnen) prangt; in Wien imitiert Becker, wenn auch falsch, den örtlichen Dialekt in der Grußformel („Zwoa Busserl“): und auf einer seiner letzten Karten schildert Becker seine Krebserkra­nkung mit grimmigem Galgenhumo­r: „Holaho und Holahi, hoch die Chemothera­pie. Die macht Laune, die macht Spaß, und sie bringt auch manchmal was.“Am Strand von Bochum ist allerhand los ist ein wunderbare­s Postkarten­buch, das den Leser mit dem Wunsch zurückläss­t, dieser Art der Kommunikat­ion möge auch in Zeiten von Twitter und Instagram eine lange Zukunft beschieden sein. Christoph Winder

Jurek Becker, „Am Strand von Bochum ist allerhand los. Postkarten“. Hg. von Christine Becker. € 33,– / 398 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2018

 ?? Ak n li H n ia st ri h C : to Fo ?? Kartennach­richten von der obersten monegassis­chen Familie und aus Santa Monica, Kalifornie­n.
Ak n li H n ia st ri h C : to Fo Kartennach­richten von der obersten monegassis­chen Familie und aus Santa Monica, Kalifornie­n.
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