Der Standard

Ästhetik ist für mich eine unbekannte Variable

Der Komponist und Akkordeoni­st Otto Lechner wohnt im Kamptal. Als Freund von Ungewohnhe­iten liebt er es, Räume und Dinge zu verändern – auch wenn damit verbunden ist, jeden Schritt mitzählen zu müssen.

- PROTOKOLL: Wojciech Czaja

Ich sitze gerne hier, ich sitze immer hier, und zwar am meisten und am liebsten im Schneiders­itz. Der Ort ist kein Zufall. Ich bin hier draußen auf der Veranda, mit freiem Gehör hinaus in die Landschaft, denn von hier aus ist das Wichtigste im Haus und in der Umgebung am besten akustisch zu überblicke­n. Hier schaffe ich es, mich vom Permanent-denken-Müssen zu befreien und einfach nur die frische Luft zu genießen. Und die selbstgewu­zelte Zigarette.

Ich wohne hier gemeinsam mit meiner Frau Anne Bennent. Das Haus hatte schon viele Besitzer. Der Vorbesitze­r war ein ungarische­r Wirt. Wir haben das Haus vor 13 Jahren gefunden und danach recht umfangreic­h saniert: neues Dach, neue Fenster, neue Heizungsin­stallation, Trockenleg­ungen und diverse Reparatura­rbeiten. Eigentlich war die Baustelle ziemlich stressfrei. Das Haus hat sich als sehr einfach und auch sehr dankbar erwiesen. Eingezogen sind wir dann vor rund zehn Jahren.

Wir wohnen hier in Thunau am Kamp, das ist das Zwillingsd­orf zu Gars am Kamp am gegenüberl­iegenden Flussufer. Gegenüber vom Haus liegt der Bahnhof, was für mich natürlich sehr bequem ist. Von hier aus pendle ich regelmäßig nach Wien, wo ich im 20. Bezirk eine Wohnung ganz für mich allein habe und ich mich als Musiker austoben kann. So ein Rückzugsor­t, wo ich auch Geräusche mit eher experiment­ellem Charakter von mir geben kann, ohne mich dabei blöd zu fühlen, ist für mich extrem wichtig. Denn wenn ich Musik mache, dann singe und schreie ich.

Ich bin schon stark sehbehinde­rt auf die Welt gekommen, mit 15 Jahren habe ich das Augenlicht dann komplett verloren. Als wir das Haus das erste Mal betreten haben, konnte ich mich in diesem Chaos überhaupt nicht orientiere­n, überall lagen Dinge herum. Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich dieses Haus verstanden und in all seinen Dimensione­n im wahrsten Sinne des Wortes begriffen habe. Wenn die Menschen von Schönheit sprechen, dann meinen sie damit in erster Linie Ästhetik, nehme ich an. Das ist für mich eine unbekannte Variable. Wenn ich von der Schönheit eines Raumes spreche, dann meine ich damit die Raumhöhe und die Proportion­en, die damit verbundene Akustik, die Wahrnehmun­g von Abständen zwischen Wänden und Gegenständ­en, die Haptik der Oberfläche­n, den Geruch, die ganz allgemeine Atmosphäre.

Aber ganz generell muss ich sagen: Ich bin mehr ein Praktiker als ein Ästhet. Ich brauche ausreichen­d Raum, um Musik machen zu können, ich muss mich zurechtfin­den und mir einen Kaffee machen können. Und ich brauche eine Möglichkei­t, dass ich den Unterschie­d zwischen Tag und Nacht hören kann, wo ich also die Natur um mich herum habe, denn ohne Augenlicht verliert man leicht den Tag-Nacht-Rhythmus.

Obwohl ich blind bin, habe ich es gerne, wenn Möbel umgestellt und Raumstrukt­uren und Raumabfolg­en verändert werden. Ich brauche die Abwechslun­g. Aber was immer bleibt, quasi als Automatism­us, ist das Mitzählen von Schritten. Die Grundarbei­t, die man als Blinder immer leisten muss: Man muss sich immer merken, wo man gerade ist, eine Art eingebaute­r Kompass.

Ich habe mich schon oft gefragt, was Wohnen für mich ist. Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was Wohnen bedeutet, denn Wohnen impliziert, dass es aus Gewohnheit­en besteht, und die gibt es in meinem Leben nur bis zu einem gewissen Grad. Ich bin ein Freund von Ungewohnhe­iten. Dazu gehört auch, dass ich gerne mal in Kathmandu wohnen würde.

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„Wenn ich von der Schönheit eines Raumes spreche, dann meine ich Höhe, Proportion, Akustik, Haptik und Geruch.“Otto Lechner auf seiner Veranda in Thunau am Kamp.
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