Als der „Todesengel“sich in Südamerika versteckte
Im Tatsachenroman „Das Verschwinden des Josef Mengele“schildert Olivier Guez die Flucht des Nazis
Viele Gerüchten kursieren in den 1960ern in Europa über die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs untergetauchten Nazis. Einer der prominentesten ist der „Todesengel von Auschwitz“Josef Mengele. Der ehemalige Lagerarzt lebe im südamerikanischen Versteck als Drogenbaron in Saus und Braus, wird gemutmaßt. Andere meinen zu wissen, er habe sich das Gesicht operieren lassen und gehe mit dem ebenfalls chirurgisch unkenntlich gemachten Martin Bormann in den besten Lokalen Lateinamerikas essen.
Heiteres Netzwerk aus Nazis
Solche Spekulationen lassen zwar die Auflagen der Zeitungen hochschnellen. Doch das süße Leben auf der Flucht ist für Mengele zu der Zeit bereits vorbei. Davon erzählt der Franzose Olivier Guez in Das Verschwinden des Josef Mengele (Aufbau-Verlag). Der 200 Seiten schmale, aber detailreiche Band deckt die 30 letzten Lebensjahre Mengeles ab.
1949 war er unter dem Namen Helmut Gregor nach Buenos Aires übergesetzt. Hier hakt der Autor ein. Er beschreibt den holprigen Start am anderen Ende der Welt und wie es dann komfortabler wird. Als Händler für die Landmaschinen seines Vaters erreicht Mengele inkognito binnen kurzer Zeit ein angenehmes Auskommen. Er wagt sich zunehmend aus dem Versteck heraus und in die Kreise der wie er geflüchteten Nazis. Guez beschreibt das Netzwerk als heitere Gesellschaft, man geht zusammen auf Partys und macht Ausflüge.
Argentinien unter Präsident Juan Perón war ein guter Ort für die Nazis und andere Schlächter Europas. Seinem Plan folgend, sollten Wissenschafter und Ingenieure des Dritten Reiches das Land zu einer Supermacht machen. Die Nazis hofften aber – viele erst um die 40 Jahre alt – auf eine Rückkehr nach Europa. Das Dritte Reich sollte wiedererstehen.
Im Anhang listet Guez seine Quellen auf: Erinnerungen Überlebender, Forschungen, Biografien. Auch Tagebuchnotizen Mengeles dienten ihm als Material. So finden viele Informationen zusammen, die für sich keine neuen Erkenntnisse sind, in diesem Protokoll aber zum üppigen, schillernden Bild zusammenfließen.
Dass dessen zweite Hälfte düsterer wird, dazu trägt vor allem der Mossad bei. Deutschland will vergessen, die USA haben mit den Sowjets andere Sorgen. 1956 etwa konnte Mengele unter seinem echten Namen einen deutschen Pass beantragen! Nur der israelische Geheimdienst jagt in den 1950ern ernsthaft die Untergetauchten.
Als der Bürokrat des Holocaust, Adolf Eichmann, 1962 hingerichtet wird, ist Mengele aber dem Zusammenbruch nahe. Jetzt werden sie auch ihn kriegen! In Tagebüchern schreibt er seine Verzweiflung und den Hass auf. Er lebt auf einer Farm in Brasilien. Ein un- garisches Ehepaar gewährt ihm gegen stattliche Bezahlung Unterschlupf. Trotz Aggressionen werden sie noch zweimal gemeinsam umziehen. Die Angst, gefasst zu werden, wird Mengele aber bis zum Tod 1979 nicht mehr loslassen. Reue entwickelt er indes nie.
Eine Mischung aus Zufällen und Nachlässigkeiten pflastert Mengeles Davonkommen. Das macht seine Biografie noch beklemmender. Kann man so einen Text literarisch lesen? Nein. Man will immer wissen, was belegt und was dazuerdichtet ist. Guez führt mit sicherer Hand, hält sich als Romancier aber im Hintergrund. Die Umstände zu schildern wirft genug ab. Das Böse ist nicht nur banal, es ist auch alles andere als souverän. Etwa wenn die Haare, die Mengele dem zur Tarnung gewachsenen Schnurrbart über Jahre abkaut, sich in seinem Bauch zum Darmverschluss ballen.
In Heimkehr der Unerwünschten (2011) erzählte Guez von Juden, die nach 1945 in Deutschland weiterlebten, er schrieb das Drehbuch für den Film Der Staat gegen Fritz Bauer (2015). Was bannt ihn am Thema? Heute seien solche Geschichten – mehr als noch vor ein paar Jahren – wieder Warnung. Lesung am 17. 10., Hauptbücherei Wien