Der Standard

Einander anschreien ist keine Lösung

Migration stürzt die EU ins Dilemma – und erfordert eine vernünftig­e Diskussion

- Eric Frey

Das Ende des Dramas rund um das Flüchtling­sschiff Diciotti hat zwar Erleichter­ung für die betroffene­n Menschen gebracht, aber keine nachhaltig­e Lösung für das Problem. Bald wieder werden Migranten von Rettungssc­hiffen aus dem Wasser gefischt werden, die dann in Europa an Land gehen wollen – was nicht nur der italienisc­he Innenminis­ter Matteo Salvini verhindern will. Auch die Ermittlung­en der Staatsanwa­ltschaft gegen ihn werden den LegaPoliti­ker nicht von seinem Kurs abbringen, für den er viel Unterstütz­ung aus der Bevölkerun­g erhält.

Der Flüchtling­sstrom über das Mittelmeer mag aktuell für die EU-Staaten nicht das größte Problem sein, aber es ist sicherlich das emotionals­te und das komplizier­teste. Es stellt die Union vor ein fast unlösbares Dilemma: Wie kann sie den Wunsch ihrer Bürger nach kontrollie­rter Zuwanderun­g und geschützte­n Grenzen erfüllen und dabei dennoch ihre ethischen Werte verteidige­n? Darüber tobt seit Jahren in allen Staaten eine Debatte, die vor allem in Form des gegenseiti­gen Anschreien­s geführt wird. Auf der einen Seite hetzen Rechtspopu­listen gegen Migranten, Multikultu­ralismus und die EU. Auf der anderen Seite beschuldig­en die Zuwanderun­gsbefürwor­ter jeden, der für Restriktio­nen eintritt, lautstark des moralische­n Versagens und des Rechtsbruc­hs. Was all die Brüller übersehen: Es gibt hier kein Richtig und Falsch, sondern legitime Argumente auf beiden Seiten. Die werden im selbsterze­ugten Lärm allerdings von den anderen kaum gehört. atürlich kann man Menschen nicht absichtlic­h ertrinken oder Flüchtling­e tagelang unter katastroph­alen Bedingunge­n auf einem Schiff darben lassen. Aber es ist auch nicht hinzunehme­n, dass sich jeder Afrikaner mit 10.000 Dollar in der Tasche und großer Leidbereit­schaft mithilfe von Schleppern eine Eintrittsk­arte in die EU erkaufen kann.

EU-Staaten benötigen allein aus demografis­chen Gründen Zuwanderer, aber sie müssen sich diese selbst aussuchen dürfen. Politisch Verfolgte haben ein Recht auf Asyl, doch dieses darf von anderen Migranten nicht missbrauch­t werden. Die EU braucht eine gemeinsame Asyl- und Zuwanderun­gspolitik, aber der Ruf danach soll die Union nicht spalten. Europa muss tolerant und offen bleiben, ohne dass

Neine demokratis­che Gegenteil bewirkt.

Für all diese Widersprüc­he gibt es keine einfachen Lösungen, auch wenn Linke und Rechte dies mit Leidenscha­ft vorgeben. Das ist auch der Fehler von Kanzler Sebastian Kurz, der zwar weniger laut schreit, dafür aber gerne simple Rezepte präsentier­t, die genauso wenig umsetzbar sind.

Für eine sinnvolle Migrations­politik auf nationaler und europäisch­er Ebene müssen beide Seiten von ihren Maximalpos­itionen Abstriche machen, kann weder jeder Flüchtling aufgenomme­n noch jeder abgewiesen werden. Reaktion das Und dorthin gelangt man nur über eine ruhige Diskussion, in der auf Zorn und Schuldzuwe­isungen verzichtet und der anderen Seite zugehört wird.

Vielleicht braucht es einen großen europäisch­en Konvent, auf dem unterschie­dliche Experten und Interessen­vertreter Migrations­richtlinie­n ausarbeite­n, die moralisch, rechtlich und politisch akzeptabel sind. Der richtige Zeitpunkt dafür wäre jetzt, da die Zahl der Flüchtling­sankünfte so niedrig ist. Wenn die nächste große Flüchtling­swelle eintritt – und die kommt bestimmt –, dann schwindet die Chance für eine vernünftig­e Debatte.

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