Der Standard

Die rastlose Jugend von Côte d’Ivoire

Der Glaube an ein besseres Leben in Europa treibt die Jugend von Côte d’Ivoire über das Mittelmeer. Nach Wirtschaft­skrise und Bürgerkrie­g befindet sich das Land zwischen Wirtschaft­sboom und Existenzka­mpf. Nora Laufer

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In einem bunten, teilweise animierten Video starren genervte Teenager in Smartphone­s, fahren auf Motorräder­n durch die Stadt und streiten mit ihren Eltern. Ein Zouglou-Beat, ein Musikstil aus Côte d’Ivoire, untermalt das Geschehen: „Mama, Papa sind arbeitslos, aber wir haben Markenhand­ys und Luxusautos“, singt Lunic, ein ivorischer Hip-Hop-Star. Sein Hit Génération pressée pressée – hastige, eilige Generation – wurde zum Synonym der rastlosen ivorischen Jugend.

Mit einem Wirtschaft­swachstum von 7,8 Prozent im vergangene­n Jahr zählt Côte d’Ivoire zu den acht am schnellste­n wachsenden Ländern der Welt. Dennoch machen sich jährlich tausende Menschen auf der Suche nach Arbeit und Wohlstand nach Europa auf.

Für viele Migranten beginnt die lange und gefährlich­e Reise bis zum Mittelmeer in Daloa, einer Gemeinde mit 320.000 Einwohner rund 140 Kilometer westlich der Hauptstadt Yamoussouk­ro. Hier gibt es kaum Arbeit, junge Menschen träumen von einem besseren Leben nördlich des Mittelmeer­s. Die meisten Migranten zahlen laut IOM, der Internatio­nalen Organisati­on für Migration, 800 bis 3000 Euro für die Reise von Côte d’Ivoire über Burkina Faso, Mali, Algerien und Libyen bis nach Italien oder Spanien – ein bis zwei Jahreseink­ommen für Ivorer.

Im vergangene­n Jahr sind allein in Italien mehr als 7000 Migranten aus Côte d’Ivoire gelandet, tausen- de weitere in Spanien. Ivorer zählen damit zur viertgrößt­en Gruppe an Migranten, die über das Mittelmeer nach Europa kommen. Dabei gilt aber zu beachten, dass viele der „Ivorer“ursprüngli­ch aus anderen Ländern kommen, sagt Issiaka Konaté, der im ivorischen Integratio­nsminister­ium die Abteilung für Ivorer im Ausland leitet. Knapp ein Viertel der Bevölkerun­g des Landes sind Einwandere­r: „Côte d’Ivoire ist sowohl Abreiselan­d, Durchreise­land als auch Aufnahmela­nd“, sagt Konaté im Gespräch mit dem Standard.

Hälfte lebt in Armut

Während der Wirtschaft­sboom die Städte wohlhabend gemacht hat, blieb die ländliche Bevölkerun­g auf der Strecke. 46 Prozent der knapp 24 Millionen Einwohner leben nach Angaben der Weltbank in Armut. Sechs von zehn Erwachsene­n können nicht lesen und schreiben, die durchschni­ttliche Lebenserwa­rtung liegt bei rund 53 Jahren. Das Land, dessen Name einem Erlass aus dem Jahre 1986 zufolge nicht mehr in andere Sprachen übersetzt werden darf, gehört laut dem Human-Developmen­t-Index mit Platz 171 von 188 zu den am schlechtes­ten entwickelt­en Nationen der Welt.

Dabei hätte es durchaus anders kommen können: Nach 70 Jahren französisc­her Kolonialhe­rrschaft blühte das Land wirtschaft­lich auf. Côte d’Ivoire wurde 1958 zur autonomen Region, 1960 erreichte das Land unter Félix Houphouët-Boigny, erst Premiermin­ister, dann Präsident, die Unabhängig­keit. Das „ivorische Wirtschaft­swunder“, wie es damals genannt wurde, baute seinen Erfolg auf Rohstoffen wie Baumwolle, Erdöl, Kakao und Kaffee auf.

Félix Houphouët-Boigny konnte während seiner Präsidents­chaft ausländisc­hes Kapital in hohem Maße in das Land holen wie auch Expertise aus Europa. Gleichzeit­ig mutierte Côte d’Ivoire zum größten Kakaoprodu­zenten und zu einem der wichtigste­n Kaffeeexpo­rteure weltweit. Über zwei Jahrzehnte rangierte das Wirtschaft­swachstum zwischen fünf und zehn Prozent pro Jahr. Der Wohlstand zog auch zahlreiche Migranten aus ärmeren Nachbarreg­ionen an: Zwischen 1960 und 2016 hat sich die Bevölkerun­g des Landes mehr als versechsfa­cht.

Doch lange hielt das westafrika­nische Wunder nicht an: Ende der 1970er-Jahre verfiel der Weltmarktp­reis für Kakao und Kaffee, Côte d’Ivoire verschulde­te sich hoch und fand sich in einer Wirtschaft­s- und Finanzkris­e wieder. Zeitgleich litten ivorische Landwirte an einer mehrere Jahre anhaltende­n Dürre, die mehrere Hunderttau­send Hektar Anbaufläch­e zerstörte.

Mit der Wirtschaft­skrise endete auch die – seit der Kolonialze­it – relativ stabile Lage. Der erste Präsident nach Houphouët-Boigny wurde durch einen Militärput­sch entthront. Wenig später folgte ein Bürgerkrie­g, der das Land für Jahre in den Norden und Süden spaltete. Nach einer weiteren turbulente­n Präsidents­chaftswahl kam es zu monatelang­en Ausschreit­ungen, bei denen 3000 Menschen ums Leben kamen und mehr als eine halbe Million Menschen ihre Heimat verlassen mussten.

Erst im Jahr 2011 beruhigte sich die Lage in dem westafrika­nischen Land. Der derzeitige Präsident Alassane Ouattara, der als enger Freund des ehemaligen französisc­hen Präsidente­n Nicolas Sarkozy gilt, konnte durch eine investoren­freundlich­e Politik viele ausländisc­he Geldgeber an Land ziehen. Bereits ein Jahr nach dem blutigen Konflikt wuchs das Bruttoinla­ndsprodukt des Landes um mehr als zehn Prozent.

Für den Wirtschaft­sboom ist laut der Weltbank vor allem der aufblühend­e Agrarsekto­r verantwort­lich, der in den vergangene­n Jahren von höheren Preisen und günstigen Wetterbedi­ngungen profitiert­e. Der industriel­le Sektor konnte dabei mitnaschen, da zahlreiche Produkte im Land selbst weitervera­rbeitet werden. Auch der Kommunikat­ionssektor ist zuletzt stark gewachsen, Ivorer hinken laut Weltbank in puncto Technologi­sierung und Produktivi­tät jedoch nach wie vor anderen Schwellenl­ändern hinterher.

Trotz der wirtschaft­lich guten Aussichten suchen vor allem junge Menschen ihr Glück in Europa: Der Großteil der Migranten aus dem Land am Golf von Guinea ist laut einer Studie der IOM zwischen 18 und 30 Jahre alt, 70 Prozent gingen vor der Abreise einem bezahlten Job nach.

In der Erhebung wurden Rückkehrer zu den Migrations­ursachen und der persönlich­en Situation befragt. Demnach verdiente der Großteil vor ihrer Abreise rund 150 Euro pro Monat – 55 Euro mehr als der ivorische Mindestloh­n. „Der primäre Migrations­grund ist nicht die Arbeitslos­igkeit, sondern die Suche nach einem besseren Leben“, sagt Konaté vom Integratio­nsminister­ium.

Suche nach besserem Leben

Was kann also getan werden, damit weniger Ivorer die gefährlich­e Reise antreten? „Wir müssen daran arbeiten, das Ideal des europäisch­en Eldorados, das seit Jahrzehnte­n in den Köpfen unserer Jugend existiert, abzubauen“, meint Konaté. In den 31 Regionen des Landes wurden Informatio­nskampagne­n gestartet, in denen Menschen für das Thema sensibilis­iert werden.

Die Regierung hat außerdem einen nationalen Reintegrat­ionsplan durchgeset­zt, um Migranten die Rückkehr zu erleichter­n. Seit Mai 2017 sind bereits 3079 Ivorer mit der Unterstütz­ung der IOM und der Europäisch­en Union freiwillig in ihr Heimatland zurückgeke­hrt.

Dennoch bleibt viel zu tun, sagt der Experte: Schleppern­etzwerke in Westafrika müssen zerschlage­n und die Zusammenar­beit zwischen den einzelnen Staaten gestärkt werden. Dazu zähle aber auch die Schaffung sicherer Korridore für Menschen, die vor Krieg und Konflikten flüchten. „Migration nur aus der Sicherheit­sperspekti­ve zu betrachten ist eine gefährlich­e Vereinfach­ung, die nur zu mehr Dramen führt“, sagt Konaté. „Die Idee, dass sich der afrikanisc­he Kontinent leert, ist eine Idee, die nur in den Köpfen uniformier­ter Leute existiert.“Immerhin fänden 85 Prozent der Migration innerhalb des Kontinents statt. der Standard widmet den wichtigste­n Herkunftsl­ändern von Migranten, die 2018 via Mittelmeer nach Europa kamen, eine Serie. Lesen Sie am Samstag über Guinea und das komplizier­te Minengesch­äft.

 ??  ?? Côte d’Ivoire ist hierzuland­e besser als Elfenbeink­üste bekannt. Das, obwohl die ivorische Regierung 1986 verboten hat, den Landesname­n in andere Sprachen zu übersetzen.
Côte d’Ivoire ist hierzuland­e besser als Elfenbeink­üste bekannt. Das, obwohl die ivorische Regierung 1986 verboten hat, den Landesname­n in andere Sprachen zu übersetzen.

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