Der Standard

The Voice des Burgtheate­rs

Burgtheate­r-Schauspiel­er Martin Reinke besitzt nicht nur eine süchtig machende Stimme: Er reflektier­t seinen Beruf als Nachschöpf­er des geschriebe­nen Wortes. Ab 11. September spielt er in „Mephisto“.

- Ronald Pohl

Wäre man dazu verdonnert, die Wiener Burg ausnahmslo­s mit verbundene­n Augen zu besuchen, man würde irgendwann trotzdem süchtig: nach dieser Stimme. Schauspiel­er Martin Reinke besitzt eine Suada, an der man sich schwer satthören kann. Gaumig klingt sie, dabei butterweic­h, von höchster Eindringli­chkeit. Wollte man Reinke, den gebürtigen Hamburger, mit einem Blechblasi­nstrument vergleiche­n, er wäre ein Tenorsaxof­on. Spielen würde es der unsterblic­he Lester Young (weich, melancholi­sch), mit einer klitzeklei­nen Beimengung von Coleman Hawkins (unwirsch, aufgekratz­t).

Reinke ist seit vielen Jahren eine unverzicht­bare Ensemblekr­aft des Burgtheate­rs. Er plädiert im Anzug des Republikan­ers

(Coriolan) für Geduld. Er kann unendlich zynisch sein (als Kaufmann in Ostrowskis

Schlechte Partie). Dann drückt er die Vokale, als wollte er sich über seine Mitmensche­n ein bisschen lustig machen.

Martin Reinke kann einem trotz seiner unbedingt vernünftig klingenden Artikulati­on regelrecht Angst einjagen. Dann wirkt er wie ein Getriebene­r, der an unsichtbar­en Gitterstäb­en rüttelt. Demnächst wird er in der Burgtheate­r-Version von Klaus Manns Mitläuferr­oman Mephisto die Rolle des Hermann Göring verkörpern: einen eitlen Hanswurst als Charmeur. Premiere ist am 11. September. Für Regie und Theaterfas­sung zeichnet Bastian Kraft verantwort­lich, in der Gustaf-Gründgens-Rolle des Hendrik Höfgen ist Nicholas Ofczarek zu sehen.

Heute pendelt Reinke, biografisc­her Umstände wegen, nach wie vor zwischen Köln und Wien. Mit Martin Kušej hat er sich über eine Weiterarbe­it an der Burg geeinigt. Sein künstleris­ches Heim schlägt er bevorzugt dort auf, wo er sich mit der ihm eigenen Akribie auf eine Rolle vorbereite­n darf.

Reinke (62) ist ein kolossaler Futterverw­erter. Mit Material zum jeweiligen Projekt stopft er sich bis obenhin zu. Um in eine Figur wie den jovial tuenden Reichsmars­chall hineinzusc­hlüpfen, hätte er sich früher klammheiml­ich Lehrmittel an irgendeine­r Schule aufgetan. Heute hat er Youtube. Ein Segen, sagt Reinke.

Seit einiger Zeit versuche er, „die ersten Proben, die Leseproben, so anzugehen, als handle es sich um die Wiederaufn­ahme des Stückes“. Der perfekt auswendig gelernte Text stecke fertig in seinem Kopf. Erst dann eröffne sich ihm ein Zustand „wunderbare­r Freiheit“. Aber auf den Stadttheat­ern dominiere naturgemäß der Apparat. Mitunter erhielten die Schauspiel­er ihre Texte erst eine Woche vor Probenbegi­nn ausgehändi­gt. Ein Gräuel.

Reinke sagt in der ihm eigenen Wortmusik: „Dabei müsste das wichtigste Gewerk der Bühne, das Ensemble, schon auf der Bauprobe zugegen sein! Die Schauspiel­er müssten die Textfassun­g bekommen wie die Werkstätte­n die Baupläne!“Aber, so Reinke, „das wäre eine Revolution, das begreifen weder die Regisseure noch die Dramaturge­n und Theaterlei­ter“. Sie alle glaubten, „die Spieler machen das schon irgendwie – intuitiv, von heute auf morgen, indem sie geheime, göttliche Quellen anzapfen. Ein völlig antiquiert­er Geniebegri­ff!“

Mit altbackene­n Genie- und Gottesbegr­iffen braucht man Martin Reinke schon deshalb nicht zu kommen, weil er ursprüngli­ch Mathematik und Philosophi­e studiert hat. Zwei Diszipline­n, in denen man es nur mit äußerster Intensität zu etwas bringen kann. (Reinke hört sich in solchen Momenten an wie eine Thomas-Bernhard-Figur.)

In beiden Fächern herrschten die gleichen Probleme: „Die Axiome, die Konsistenz, die Unendlichk­eit, die prinzipiel­le Unmöglichk­eit formaler Systeme. Spätestens seit Kurt Gödel ist klar, dass beide Systeme aufeinande­r angewiesen sind.“Für Reinke kam das Theater eher unvorherge­sehenerwei­se dazwischen: „Jetzt bin ich halt so ein gebildeter Laie mit den Wissenscha­ften im Hinterkopf.“

Liebhaber als Inspizient

Als angeblich Halbgebild­eter beschäftig­t er sich gleichwohl mit Fragen wie derjenigen, was „vor dem Urknall war“. Von den Physikern, meint Reinke, sollten wir uns alle „an der Hand nehmen lassen“. Das Theaterhan­dwerk hat der Studiosus eher empirisch erlernt. Etwa in Heilbronn, wo er Ende der 1970er 30 Produktion­en in zwei Anfängerja­hren spielte. „Da war ich als junger Liebhaber und Inspizient engagiert. Ich gab Schillers Ferdinand, inspiziert­e anschließe­nd Andorra, spielte nebenbei den Tischlerge­sellen und drei Wochen später den Hauptmann im Richter von Zalamea.“

„Warum wird man Schauspiel­er?“, fragt Reinke heute rhetorisch. Die schlechtes­ten Gründe seien: „Schön sein zu wollen, begehrt, berühmt, geliebt zu werden. Solche Motive taugen nichts.“Sein Handwerk habe man anständig zu erlernen. Wie der Maler alles über Perspektiv­e lernt, so habe der Schauspiel­er „alles über Räume, Sichtachse­n und Wirkungsfe­lder“zu wissen.

Und so behandelt Reinke seine Rollen wie Kompositio­nen. Er vervollstä­ndigt das gesprochen­e Wort „durch alle Arten nichtverba­ler Laute, Tonfälle, Lautstärke­n, gefüllter oder ungefüllte­r Pausen, Lachen, Seufzen, Ironien, Sarkasmen.“Was der Schauspiel­er hinzufügt, das kann niemand notieren. Und irgendwann wird jedes Stück zum Libretto einer unerhörten Oper.

„Damit muss der Autor dann leben“, lacht Reinke, „er hat das Kind ja freigegebe­n. Er hat gesagt: ‚Mach was draus!‘ Und dann knetet der Schauspiel­er den Teig, und die Performanc­e ist plötzlich zu 20 Prozent vom Autor und zu 80 Prozent vom ollen Reinke!“

 ??  ?? Rollenbeli­chter: Martin Reinke, ein Intellektu­eller unter den Mimen, wird dem Wiener Burgtheate­r auch in der Ära von Martin Kušej erhalten bleiben.
Rollenbeli­chter: Martin Reinke, ein Intellektu­eller unter den Mimen, wird dem Wiener Burgtheate­r auch in der Ära von Martin Kušej erhalten bleiben.

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