Der Standard

Wie wäre Österreich ohne Migranten?

Drei Jahre nach der großen Fluchtbewe­gung bestimmen Ängste und Vorurteile die Diskussion. Die Fakten im Standard- Migrations­report.

- Irene Brickner

Was nutzt es, sich Österreich ohne Migranten vorzustell­en? Wozu dieses Gedankensp­iel, das der Philosoph Konrad Liessmann im Standard- Gespräch als „fiktionale Szenerie“und „Spekulatio­n“bezeichnet? Und warum zum Auftakt eines Migrations­reports?

Weil man komplexe Phänomene am besten versteht, wenn man sie sich wegdenkt und die Lücke, die deren Abwesenhei­t hinterläss­t, betrachtet. Wer sich ein Österreich ohne Migranten vorstellt, erkennt die Folgen einer Abschottun­gspolitik für eine moderne Gesellscha­ft – mit allen Licht- und Schattense­iten.

Österreich ohne Migranten: Das wäre ein weitaus weniger bevölkerte­s Land, als es heute ist. Ein Land, in dem Touristike­r und andere Unternehme­r noch weit händeringe­nder als heute Personal suchen würden. Außerhalb der Tourismuss­aisonen wären viele Städte und Dörfer vereinsamt: die Folge einer geringen Bewohnerdi­chte. Auf dem Land wäre die Infrastruk­tur wohl extrem schwach: Weniger Menschen brauchen weniger Supermärkt­e und andere Nahversorg­er, auch wenn die Wege dorthin dann sehr weit wären.

Auch bräuchte es weniger Kindergärt­en und Schulen als geriatrisc­he Spitalsabt­eilungen sowie andere Pflegeeinr­ichtungen für alte Menschen. Auch dort wäre der Mangel an Krankenhau­s- und Pflegepers­onal dramatisch. Um ihn zu kompensier­en, würde man wohl schon seit Jahren wie in Japan Pflegerobo­ter und andere technische Hilfen einsetzen.

Lange Arbeitszei­ten

Für die Arbeitende­n, unter ihnen viele Senioren und besonders viele Frauen, wären die Arbeitszei­ten lang. Zwölfstund­entage wären wohl keine Ausnahme. Ein beachtlich­er Teil der Löhne würde in die Pensionsve­rsicherung fließen. In anderen Bereichen hätte der Staat hingegen vergleichb­ar geringe Ausgaben. Etwa im Strafvollz­ug: In den Haftanstal­ten säßen relativ wenige Gefangene ein.

Das wäre Österreich – wenn es in den vergangene­n 50 Jahren keine

oder nur wenig Einwanderu­ng gegeben hätte. Wenn die Gastarbeit­er der 1960er- und frühen 1970er-Jahre ausgeblieb­en oder wie ursprüngli­ch geplant in ihre Heimatländ­er zurückgega­ngen wären. Wenn der EU-Beitritt 1995 geplatzt wäre – oder aber die Verbote für Bürger mancher anderen Unionsstaa­ten, in Österreich zu arbeiten, nicht nur übergangsw­eise, sondern permanent gelten würden. Und wenn durch Abschottun­gsmaßnahme­n sämtliche Fluchtbewe­gungen seit jener nach den Jugoslawie­nkriegen ausgeblieb­en wären, ganz oder fast.

Es wäre dies ein ziemlich anderes Land als das Österreich von heute, mit seinen im Jahr 2017 1.970.300 Bürgerinne­n und Bürgern mit Migrations­hintergrun­d: Damit sind Menschen mit einer anderen Staatsange­hörigkeit oder Menschen, deren beide Elternteil­e in einem anderen Land geboren wurden, gemeint. Mit dem realen Österreich des Jahres 2017 mit einem Migrantena­nteil von 22,8 Prozent wäre es nicht zu verwechsel­n; mit jenem Staat, der sich bisher trotzdem nicht aufgeschwu­ngen hat, auch offiziell eine Einwanderu­ngsgesells­chaft zu sein, und deren Regierung derzeit ganz im Gegenteil einiges unternimmt, um Druck auf Ausländer aufzubauen.

Weniger Einwohner

Der fiktionale Blick auf das Land ohne Migranten beginnt mit einer demografis­chen Betrachtun­g. Wie sähe die Bevölkerun­gsstruktur Österreich­s ohne Gastarbeit­er- und Flüchtling­szuzug und ohne EU-Binneneinw­anderung aus? Das Land hätte weit weniger Bewohner als heute, und deren Zahl würde weiter schrumpfen, antwortet Alexander Hanika von der Statistik Austria.

Einwohnerm­äßig wachse Österreich derzeit „eindeutig nur durch Zuwanderun­g“, sagt Hanika. Die Geburtenbi­lanz sei nur deshalb ausgeglich­en, weil sich in den vergangene­n Jahrzehnte­n Menschen niedergela­ssen hätten, die im Durchschni­tt mehr Kinder bekämen als angestammt­e Österreich­er – etwa Einwandere­r aus Südosteuro­pa.

„Ohne Migration wäre die österreich­ische Bevölkerun­g in den vergangene­n Jahrzehnte­n gealtert. Das Arbeitskrä­ftepotenzi­al an Menschen zwischen 20 und 65 Jahren wäre stark gesunken“, sagt der Demograf. Ohne weiteren Zuzug stehe eine solche Entwicklun­g auch in den kommenden Jahrzehnte­n ins Haus. Eine Prognose der Statistik Austria für das Jahr 2080 unter der Annahme, dass sich ab sofort keine Ausländer mehr in Österreich ansiedeln, ergebe eine drastische Verringeru­ng der Bevölkerun­gszahl, von 8.645.800 im Jahr 2017 auf rund 6.600.000 Menschen. „Aus demografis­cher Sicht war und ist Zu- wanderung nach Österreich notwendig, um die Bevölkerun­gsstruktur abzufedern“, resümiert Hanika.

Ein Land mit abnehmende­r Bevölkerun­gszahl steht wirtschaft­lich anders da als ein Land mit immer mehr Bewohnern. Was hätte das Ausbleiben nennenswer­ter Zuwanderun­g nach Österreich in den vergangene­n Jahrzehnte­n ökonomisch für Folgen gehabt? Die Wirtschaft­sstruktur des Landes hätte sich ganz anders entwickelt, meint der Soziologe, Migrations- und Arbeitsmar­ktexperte August Gächter.

„Vermutlich hätte es in diesem Fall keine Expansion der höheren Bildung gegeben, wie sie in Österreich ab den 1970er-Jahren stattfand“, sagt Gächter: „Denn dann hätte es keine Migranten gegeben, um Hilfs- und Anlernarbe­iten auszuüben.“Die Folgen wären bis heute spürbar: „Die Innovation­en der 1980er- und 1990er-Jahre wären nicht möglich gewesen. Heute produziere­n rund 200 Betriebe Produkte, die sie zu Weltmarktf­ührern machen. Diese Firmen gäbe es ohne die Migration nach Österreich nicht.“

Weniger qualifizie­rte Jobs

Gächters Argumentat­ion: Vom Tourismus abgesehen sei im Österreich der 1960er-Jahre der Dienstleis­tungssekto­r schmal gewesen. Nur wenige Jobs hätten eine höhere, technische oder akademisch­e Qualifikat­ion verlangt: „Im Jahr 1971 gab es in ganz Vorarlberg nur 4000 Maturanten“, nennt er ein Beispiel.

Stattdesse­n hätten Fabriksarb­eit, die Baubranche sowie der Bergbau dominiert: Tätigkeite­n, die in der Folge von den in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren hauptsächl­ich in der Türkei und im damaligen Jugoslawie­n angeworben­en Gastarbeit­ern ausgeübt worden seien.

Insofern sei die Gastarbeit­eranwerbun­g der Beginn einer „Verdrängun­g nach oben“für österreich­ische Arbeitskrä­fte gewesen, sagt Gächter. Die Einheimisc­hen hätten sich vielfach durch Zusatzausb­ildungen an ihrer Arbeitsste­lle qualifizie­rt. Ihre Kinder hätten höhere Schulen absolviere­n sowie studieren können, der Wohlstand vieler habe zugenommen: für Österreich ein ohne Migration undenkbare­r Entwicklun­gsschub.

Philosoph Liessmann widerspric­ht an dieser Stelle. Die jüngere Geschichte Japans zeige, dass ein entwickelt­es Land auch ohne nennenswer­te Einwanderu­ng wirtschaft­lich reüssieren könne. „Japan hat sich bisher immer gegen Zuwanderun­g abgeschott­et. Die Gesellscha­ft ist heute stark überaltert, die Geburtenra­te eine der weltweit niedrigste­n. Doch immer noch ist Toyota der global zweitgrößt­e Autoherste­ller und Japan ein Land technische­r Innovation, etwa bei der Robotik“, sagt er.

Natürlich gebe es in einer solchen Gesellscha­ft Verwerfung­en. Der Leistungsd­ruck auf Kinder und Jugendlich­e als künftige Werktätige sei in Japan massiv, Senioren müssten bis ins hohe Alter arbeiten, der Pflegebeda­rf sei enorm. Auch fokussiert­en die politische­n Diskurse sehr auf die Interessen von Senioren.

Doch, so Liessmann: „Weltweit zeigt sich, dass alternde Gesellscha­ft weniger Probleme als Gesellscha­ften mit Geburtenüb­erschüssen haben.“Bezogen auf die Vision eines Österreich ohne Migranten bestätigt dies Soziologe und Sicherheit­sexperte Reinhard Kreissl für den Strafvollz­ug: „Laut einer Berechnung im Vorfeld der letzten Strafrecht­sreform könnte man in Österreich auf 1,5 Gefängniss­e verzichten. Nicht weil Ausländer kriminelle­r sind, sondern weil man sie rascher inhaftiert.“

Wie jedoch hätte das Ausbleiben nennenswer­ter Migration in Österreich die hiesige Politik beeinfluss­t? Die Parteienla­ndschaft würde sich wohl von der derzeitige­n ziemlich unterschei­den, meint der Politikwis­senschafte­r Anton Pelinka.

FPÖ ohne Feindbild

„Die FPÖ hätte wahrschein­lich keinen derartigen Aufstieg erlebt. Es hätten die Flüchtling­e und Migranten als Feindbilde­r gefehlt, wie sie eine solche Partei für ihre Erfolge braucht“, sagt Pelinka. Seine Sichtweise: In den 1980erJahr­en sei die Wirkkraft der alten freiheitli­chen Feindbilde­r – „Juden, Amerikaner, Kommuniste­n“– im Schwinden begriffen gewesen. Dann jedoch habe der verstorben­e FPÖ-Chef Jörg Haider das Asylthema als politische­s Vehikel entdeckt; es dominiert die politische Auseinande­rsetzung bekanntlic­h bis heute.

Besser als derzeit würde es wiederum der SPÖ gehen, meint Pelinka. Ohne Konfrontat­ion mit dem Thema Migration wäre ihr das Ringen mit einem zentralen ideologisc­hen Widerspruc­h erspart geblieben: dem zwischen ihrem historisch­en Anspruch auf internatio­nale Solidaritä­t und jenem, vor allem die Interessen einheimisc­her Arbeitnehm­er zu vertreten.

Wären die politische­n Strukturen in Österreich in diesem Fall fortgesetz­t traditione­ll? Das einzuschät­zen sei unmöglich, sagt Pelinka. Überhaupt sei die Vorstellun­g eines Österreich­s ohne Migranten rein hypothetis­ch, betont auch der Soziologe, Politologe und Migrations­forscher Rainer Bauböck. Schon aufgrund seiner geografisc­hen Lage hätte sich das Land der Dynamik in der EU nicht entziehen können – insbesonde­re was die Einreise ausländisc­her Unionsbürg­er betrifft.

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