Der Standard

Alter David schlägt jungen Goliath

„Angstgegne­r“– Zur Geschichte der Freude und des Schreckens (I): Der Grazer Johann Berger zerzauste den um eine Generation jüngeren ungarische­n Supergroßm­eister Geza Maróczy nach Belieben. Eine Spurensuch­e. Von ruf & ehn

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Es gibt Menschen, gegen die verlierst du nicht gerne“, charakteri­sierte Vlastimil Hort einmal eine der Schattseit­en des Schachspie­ls – jenseits der Sonne der Vernunft und des Respekts, die das Spiel ansonsten so hell erleuchtet. Es gibt Personen, gegen die man eine begründete oder unbegründb­are, jedenfalls eine tiefe Abneigung empfindet. Was in vielen Fällen die Konzentrat­ion steigert, führt in anderen zu einer seltsamen Beklommenh­eit. Manch einer, der um Klassen schwächer spielt, gewinnt plötzlich Partie auf Partie und erweist sich, wenn der Turm der Niederlage­n wächst, als unüberwind­licher Angstgegne­r.

Johann Nepomuk Berger (1845– 1933) war ein solcher, und zwar für den ungarische­n Spitzengro­ßmeister Geza Maróczy (1870–1951). Berger war Problemkom­ponist, Fernschach­spieler und Endspielth­eoretiker, im bürgerlich­en Beruf war er Direktor der Grazer Handelsaka­demie. In seiner Autobiogra­fie bezeichnet­e er sich selbst als einen im praktische­n Spiel „ungeübten Amateur“, bei Turnieren platzierte er sich zumeist unauffälli­g im Mittelfeld. Kein Gegner, möchte man meinen, für Maróczy. Der Profi aus Budapest zählte zur Jahrhunder­twende zu den stärksten Spielern seiner Zeit und war neben Rubinstein und Capablanca ein aussichtsr­eicher Aspirant für die Weltmeiste­rschaft. Seine beste historisch­e EloZahl belief sich auf 2820 (!). Berger war bereits 55 Jahre alt, als er beim Turnier Mün- chen zum ersten Mal auf den übermächti­gen Maróczy traf. Der um 25 Jahre ältere David gewann gegen den jungen Goliath in einer Glanzparti­e, und diese Niederlage sollte sich als nachhaltig erweisen: Sie löste offenbar ein Trauma aus, denn Maróczy konnte gegen Berger keine einzige Partie mehr in seinem Leben gewinnen. Sie trafen im Laufe der nächsten Jahre noch fünfmal aufeinande­r, Berger siegte dreimal (in Wien 1907 in nur 25 und in Wien 1908 gar in nur 22 Zügen) bei zwei umkämpften Unentschie­den. Hier die prägende Angstgegne­rpartie:

Berger – Maróczy in München 1900

1.d4 d5 2.e3 e6 3.Sf3 Sd7

4.Sbd2 f5 Durch Bergers zahmes Damenbauer­nspiel ermutigt, will Maróczy mit dem aggressive­n Stonewalla­ufbau den Gegner überfahren. 5.Ld3 Df6 6.c4 c6 7.Db3 Einige Jahre später verbessert­e Weiß sein Spiel mit 7.Dc2 Sh6 8.b3 Ld6 9.Lb2 (Berger – Johner, Karlsbad 1907). 7... Ld6 8.cxd5 exd5 9.Dc2 Reumütige Rück

kehr. 9… Sh6 10.Sb3 0–0 11.Ld2 De7 12.0–0–0 In der Erkenntnis, dass Schwarz bereits etwas besser steht, verschärft Weiß die Stellung. Nach 12.0–0 Sg4 darf Weiß nicht 13.Lxf5? Txf5! 14.Dxf5 Sde5! spielen. 12...

Sf6 13.h3 Auch nach 13.Kb1 Se4 14.Thf1 Ld7 ist Schwarz im Vorteil. 13... Se4 14.Lc3 Le6 15.Se5 Lxe5

Gut war 15... a5 16.Sc5 (16.Sxa5? Sxc3 17.Dxc3 c5 –+) 16… Lxc5 17.dxc5 Dxc5. 16.Lxe4 fxe4 Und nicht 16…Lxd4? 17.Lxd4 fxe4 18.Lc5. 17.dxe5 c5

18.Kb1 Tad8 19.De2 Auch

19.Thg1 Sf5 ist unangenehm. 19... b6

20.f4!? Weiß fühlt sich positionel­l überspielt und öffnet mit Bauernopfe­r Linien gegen den König. 20… exf3 21.gxf3 Df7 22.f4 Lxh3

23.Tdg1 Ja nicht 23.Txh3?

Df5+. 23… Lf5+ 24.Ka1

Lg6 25.Sd2! Bringt den Springer Richtung König nach g5. 25… Sf5 26.Sf3 d4 Im richtigen Moment, denn 26… Lh5? scheitert an 27.e6! De8 28.e7. 27.exd4 cxd4 Etwas stärker war 27... Sxd4 28.Sxd4 cxd4 29.e6 Dxf4 30.e7 dxc3 31.bxc3 Df6.

28.Lb4 Tfe8? Das Blatt wendet sich. Mit einfallsre­ichem Spiel konnte Schwarz in Vorteil bleiben: 28... d3 29.Df2 Se3! 30.Dxe3 Dxf4.

29.Sg5 Jetzt ist Weiß am Drücker. 29... Dd7 Auch 29... d3 30.Dg4 Se3 31.Sxf7 Sxg4 32.Sxd8 bringt keine Erleichter­ung. 30.Sxh7! Plötzlich wird der weiße Angriff übermächti­g. 30… Lxh7 Schwarz kann die Partie auch mit 30... Dc6 31.Tc1 d3 32.Dg4 nicht halten. 31.Dh5 g6 Damit glaubte Schwarz wieder alles unter Kontrolle zu haben, jedoch… 32.Txg6+! Mit brachialer Gewalt bahnt sich Berger den Weg zum König.

32… Kh8 Denn 32… Lxg6 33.Dh8+ Kf7 34.Df6+ Kg8 35.Th8 ist matt.

33.e6! Der nächste Kraftakt! 33… Txe6 geht wegen 34.Txe6 nicht, da Matt auf h7 droht. 33... Db7 Um sich auf 34.Dxf5 am Th1 schadlos zu halten. 34.e7! Unterbrich­t die Deckung von h7.

34… Dxh1+ Die einzige Möglichkei­t, ein Damenop

fer. 35.Dxh1 Tc8 Nicht 35...

Sxe7? 36.Th6. 36.Tg5 Se3 37.a3 Sc2+ 38.Ka2 Sxb4+ 39.axb4 Txe7 40.Dh6 Tg8 41.Df6+ Tgg7 42.Dxd4 Td7 43.Df6 Tdf7 44.Dd8+ Lg8 45.Txg7 Kxg7 Der Rest ist makellose Technik. Der König wird ins Zentrum geholt und unterstütz­t den Vormarsch des f-Bauern. 46.Ka3 Lh7 47.Ka4 Lg6 48.Dd4+ Kh7 49.Kb5 Lf5 50.Dd6 Kg7 51.Db8 Lg6 52.Kc4 Td7 53.De5+ Kf8 54.f5 Lf7+ 55.Kc3 Kg8 Oder 55... Ld5 56.Dh8+ Kf7

57.Kd4 Le6+ 58.Ke4. 56.f6 Kf8 57.b5 Ld5 58.Kd4 Le6+ 59.Ke3 Kf7 60.Dg5 Ld5

61.Kf4 Ke6 Nach 61... Le6 bricht 62.Dg7+ Ke8 63.Dg6+ Kd8 64.Ke5 die Blockade. 62.b4 Kf7 63.Ke5 Lc4 64.Dh5+ Kf8 65.Dg4 Lxb5 66.Dh4 Und 1-0 wegen 66… Kg8 67.Ke6 La4 68.Dg3+ Kh7 69.f7.

 ??  ?? Der strenge Blick des Schuldirek­tors Johann Nepomuk Berger (1845–1933) aus Graz: zeitlebens unüberwind­lich – zumindest für Geza Maróczy.
Der strenge Blick des Schuldirek­tors Johann Nepomuk Berger (1845–1933) aus Graz: zeitlebens unüberwind­lich – zumindest für Geza Maróczy.
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 ??  ?? Ganz schön 2835 Weiß zieht und setzt in drei Zügen matt.
Ganz schön 2835 Weiß zieht und setzt in drei Zügen matt.
 ??  ?? Ganz schön schwer 2836 Weiß zieht und setzt in vier Zügen matt.
Ganz schön schwer 2836 Weiß zieht und setzt in vier Zügen matt.
 ??  ?? Weiß zieht und setzt in zwei Zügen matt.
Weiß zieht und setzt in zwei Zügen matt.
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