Frau über Bord: Wie man zehn Stunden im Wasser überlebt
Glück und Wassertemperatur spielen eine entscheidende Rolle, Willenskraft erhöht die Chancen
Nachdem sie betrunken von einem Kreuzfahrtschiff gesprungen war, überlebte eine 46-jährige Britin zehn Stunden lang in der Adria treibend – mit Sonnenbrand, sonst aber unbeschadet. Eine unglaubliche Geschichte: Wie ist es möglich, so lange im Wasser zu überleben?
Mehrere Faktoren spielen dabei eine Rolle. Glück ist, wenig überraschend, ein wesentlicher. Das braucht man, um nach dem Sprung nicht von den Wellen, die das Schiff erzeugt, unter Wasser gezogen zu werden.
Am entscheidendsten war im Fall der über Bord gegangenen Frau aber die Wassertemperatur: Sie fiel in etwa 28 Grad warmes Wasser. Bei Temperaturen über 20 Grad können Menschen etwa 25 Stunden überleben, bei 15 Grad sind es nur noch sechs Stunden, bei zehn Grad zwei und bei fünf Grad höchstens eine Stunde, erklärt Mike Tipton, Experte für Überleben in Extremsituationen, gegenüber der BBC. Ist das Wasser zu kalt, sind ein Schock und Ertrinken die Folge. Denn je mehr die Körpertemperatur sinkt, desto müder und verwirrter wird man. „Es ist wirklich eine Ausnahme, dass die Frau so lange überlebt hat“, sagt die Wiener Sportmedizinerin Ulrike Preiml.
Nicht schwimmen
Um das Absinken der Körpertemperatur zu verlangsamen, ist es ratsam, an der Wasseroberfläche zu treiben. „Man sollte möglichst kräftesparend versuchen, sich über Wasser zu halten. Am besten am Rücken treiben und Arm- und Beinbewegungen minimieren“, rät Markus Schimböck von der Wasserrettung Niederösterreich.
Auf keinen Fall sollte man schwimmen. „Außer das Ufer oder eine Insel sind in erreichbarer Nähe. Aber hier täuschen die Distanzen oft“, so der Experte. „Schwimmen ist extrem kräfteraubend und erschöpft schnell“, bestätigt Preiml. Wer die Möglichkeit hat, sich an einem schwimmenden Objekt festzuhalten, sollte das tun. Schimböck: „Schuhe oder Jacke saugen sich voll, davon sollte man sich trennen.“
Zusätzlich spielt die mentale Stärke eine Rolle. Viele Menschen würden in Panik geraten oder wie gelähmt sein. Der Überlebenswille ist für eine Rettung entscheidend. „Die Frau muss cool geblieben sein“, sagt Preiml. Die Britin erzählte ihren Rettern, sie habe gesungen, um sich abzulenken. Das sei eine gute Bewältigungsstrategie, glaubt Preiml. Es gehe darum, ein mögliches Ertrinken zu verdrängen, so Schimböck: „Auch Gedanken an die Kinder können helfen – dazu gibt es viele Berichte von Menschen, die ähnliche Situationen überstanden haben.“
Und welchen Einfluss hat Alkohol? Generell minimiert er die Leistungsfähigkeit. Preiml: „Alkohol erweitert die Hautgefäße, sie geben verstärkt Körperwärme ab – die Frau war sicher stark unterkühlt.“Eventuell hat der Alkohol aber auch geholfen, gelassen zu bleiben. Preiml: „Vermutlich war ihr Alkoholisierungsgrad gerade optimal.“
Frauen im Vorteil
Der höhere Körperfettanteil von Frauen – im Schnitt um zehn Prozent höher als bei Männern – kann zu deren Gunsten wirken. Durch mehr subkutanes Fett sind Frauen schwimmfähiger, weil der Auftrieb des Körpers hauptsächlich aus der Luft und dem Fett im Körper kommt, so Tipton. Fett trägt dazu bei, den Körper warm zu halten. Preiml: „Frauen haben eine bessere Isolationsschicht.“Wie die Fettstruktur des Körpers beim Überleben im Meer hilft, zeigte im Jahr 1984 der Fall eines isländischen Fischers. Nachdem sein Schiff gekentert war, schwamm der Mann mehrere Stunden in fünf Grad kaltem Wasser. Forscher stellten bei einer späteren Untersuchung fest, dass seine subkutane Fettschicht ungewöhnlich dick ist und an Robbenfett erinnert.
Zurück in die Adria: Durch den ruhigen Seegang war die vom Kreuzfahrtschiff gesprungene Britin in der Lage, sich treiben zu lassen. Auch der hohe Salzgehalt im Meerwasser wirkte dabei unterstützend. Als sie vermisst und per Überwachungskamera festgestellt wurde, wann sie über Bord gegangen sein musste, wurde die 46-Jährige gesucht und 95 Kilometer vor der kroatischen Küste gefunden. Eine außergewöhnliche Schicksalsfügung. Preiml: „Sie hatte großes Glück. Das ist, als würde man im Meer eine Stecknadel suchen.“