Der Standard

Im Stream der Kinowunder

Netflix, Apple und Amazon drängen beim Filmfestiv­al in Venedig gegen die Gatekeeper des großen Kinos an. Neben den Coen-Brüdern und Alfonso Cuarón begeistert „The Favourite“von Yorgos Lanthimos.

- Dominik Kamalzadeh

Der größte Konkurrent von Netflix sei der Schlaf. Das hat Geschäftsf­ührer Reed Hastings tatsächlic­h einmal gesagt. Der Satz zeigt noch einmal auf, mit welch nüchterner Bescheiden­heit der Streaming-Riese sich seine Zukunft vorstellt.

Aber auch Apple und Amazon dürfen träumen. Alle drei drängen gegen die Gatekeeper des großen Kinos an. Man will mit den teuren Eigenprodu­ktionen keine TV-Filme machen, sondern eben richtige Filme, also Kino mit Anführungs­zeichen. Für dieses symbolisch­e Kapital benötigt man Festivaler­folge, im besten Fall einen Triumph bei den Oscars.

Klassenunt­erschiede

Dass man auf dem Filmfestiv­al Venedig vor allem Netflix hofiert und kein Problem mit Netflix-Filmen im Wettbewerb hat, dürfte sich als Erfolg erweisen. Denn mit Alfonso Cuaróns autobiogra­fischem Erinnerung­sfilm Roma und The Ballad of Buster Scruggs von Joel und Ethan Coen hat man künstleris­ch überzeugen­de Filme im Programm, die den Vergleich mit dem Rest nicht scheuen müssen. Wie sie sich später im Gewimmel des Onlineange­bots bewähren, bleibt eine andere Frage.

Cuarón, der 2001 am Lido mit Y Tu Mamá También seine interna- tionale Karriere begonnen hat, kehrt in Roma ins Mexiko seiner Kindheit zurück. Aus der Perspektiv­e der indigenen Hausdiener­in Cleo taucht er in den Alltag einer Familie des Mittelstan­ds ein: vier Kinder, eines davon der Regisseur selbst, die unter Frauen aufwachsen, da der Vater das Weite sucht.

In mit größter Sorgfalt arrangiert­en Schwarz-Weiß-Einstellun­gen studiert der Regisseur das soziale Gefüge. Klassenunt­erschiede bleiben spürbar, was der Nähe der stillen Cleo zur Familie aber nicht unbedingt widerspric­ht.

Eher beiläufig fügt Cuarón seine Bilder in eine Zeit des Umbruchs ein, die innen wie außen Änderungen bringt. Cuarón entpuppt sich als Meister der subtilen Verschränk­ung, wenn er das Corpus-Christi-Massaker von 1971 mit einem Schicksals­schlag für Cleo in einem Take synchronis­iert.

Stilistisc­h konträr dazu, aber ähnlich obsessiv im Detail die Coen-Brüder in ihrem Westernstü­ck in sechs Episoden, das ursprüngli­ch als Serie geplant war. The Ballad of Buster Scruggs heißt eigentlich nur die erste Erzählung um einen großmäulig­en Revolverhe­lden (Tim Blake Nelson), in der die Brüder neben ihrer Liebe zur Deadpan-Komik auch jene zu Folk und Country ausleben.

Die weiteren Episoden reichen von der grimmigen Parabel um Kleinkünst­ler bis zur Kurzelegie um einen Treck nach Oregon. Die Wendungen sind abrupt, meist tödlich. Nur Tom Waits als bärbeißige­r Goldsucher hat etwas Glück und jauchzt entspreche­nd großartig, als er wie durch ein Wunder einen Hinterhalt überlebt.

Surreale Neigungen

Es war nicht die erste Groteske, die man am Lido erleben konnte. Der für seine surreale Neigung bekannte Grieche Yorgos Lanthimos (The Lobster) hat mit The Favourite seinen ersten waschechte­n Kostümfilm gedreht; allerdings einen, der in seinem Nachdruck auf Wahnsinn, Hinterlist und Verführung am britischen Hof zumindest kein filmisches Vorbild kennt. Das Zentrum der Macht ist umkämpft. Queen Anne, die letzte Stuart im frühen 18. Jahrhunder­t, gleicht in der umwerfende­n Darstellun­g von Olivia Colman einem verzogenen Kind.

Von Kaninchen umgeben (jedes davon symbolisie­rt eines ihrer toten Kinder), liegt diese Schmerzens­königin leidend im Bett oder muss im Rollstuhl geschoben werden. Um zu regieren, fehlt jedes Know-how. Närrisch, wer da an Trump denkt. Ihre engste Vertraute, Lady Marlboroug­h (Rachel Weisz), genießt unumschrän­kte Freiheiten; so lange, bis ihr in der nicht weniger verschlage­nen Abigail (Emma Stone) eine ernsthafte Konkurrent­in erwächst.

Lanthimos spielt nicht auf Nummer sicher, sondern beschreibt Abhängigke­iten und Manipulati­onen, die bis zu sexuellen Gefälligke­itsdienste­n reichen. Irrsinn und Rohheit drängen hinter den formalisie­rten Abläufen an die Oberfläche, sie gehören gewis- sermaßen zur Etikette. Die üppigen Kostüme, die exzentrisc­hen Tänze, die schrägen Kamerawink­el, das Sounddesig­n – alles ist in diesem meisterhaf­t inszeniert­en Drama der Macht aus dem Lot.

Es lag an Olivier Assayas, einen nach diesem wilden Ritt wieder in die Jetztzeit zurückzufü­hren. Der Franzose reflektier­t in seinen Filmen oft mediale Umwälzunge­n, so auch in Double vies, der unter Schriftste­llern und Verlegern spielt. Da ist die Debatte über Leserschwu­nd und Digitalisi­erung nicht weit.

Doch der Film verschiebt die Frage nach dem „Realen“in einen Beziehungs­reigen, und zwar auf derart pointiert humorvolle Weise, dass man sich an Ernst Lubitsch erinnert fühlt. Besonders im Gedächtnis bleibt Vincent Macaigne als Schriftste­ller Léonard, der seine Romane von der Wirklichke­it abkupfert.

Assayas will ein wenig darauf hinaus, dass Franzosen in Liebesding­en schon immer mit dem virtuellen Leben vertraut waren. Ein Running Gag betrifft Michael Hanekes Das weiße Band. Es geht um eine Blowjob-Szene, die sich bei der Vorführung des Films zuträgt.

 ??  ?? Abrupte Wendungen mit meist tödlichem Ausgang: Tim Blake Nelson als großmäulig­er Revolverhe­ld Buster Scruggs im neuen Film der Coen-Brüder.
Abrupte Wendungen mit meist tödlichem Ausgang: Tim Blake Nelson als großmäulig­er Revolverhe­ld Buster Scruggs im neuen Film der Coen-Brüder.

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