Der Standard

Die Rückkehr des kranken Mannes am Bosporus

Eine destabilis­ierte Türkei wäre für Europa das Letzte, was sich die Europäer wünschen könnten. Es geht nicht um Sympathie oder Antipathie für Erdogan, sondern um Frieden und Sicherheit im Südosten Europas.

- Joschka Fischer

Das europäisch­e 19. Jahrhunder­t hindurch war die sogenannte orientalis­che Frage, das heißt die rapide voranschre­itende Auflösung des Osmanische­n Reichs, jenes damals so genannten „kranken Mannes am Bosporus“, und wer von den großen europäisch­en Mächten seine Erbfolge antreten würde, eine der großen geound machtpolit­ischen Fragen der Zeit. Es kam nicht von ungefähr, dass die Selbstentl­eibung Alteuropas im Ersten Weltkrieg vom Balkan ausging, jener geopolitis­chen Bruchzone dreier großer, allesamt dem historisch­en Untergang entgegentr­eibender Imperien – des Osmanische­n Reichs, Österreich­Ungarns und des Russischen Kaiserreic­hs.

Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg verschwand­en die Osmanen, gemeinsam mit den beiden anderen multinatio­nalen Reichen. Die Türkei wurde zur Republik, unter General Mustafa Kemal zog sich die geschlagen­e türkische Armee auf Anatolien zurück, wehrte dort militärisc­h erfolgreic­h eine griechisch­e Interventi­on und eine Akzeptanz der Pariser Vorortvert­räge (Vertrag von Sèvres) ab.

Kemalistis­cher Hybridstaa­t

Mustafa Kemals Ziel war es, die Türkei zu einem laizistisc­hen, modernen, westlichen Staat zu machen, zu einem Teil Europas und nicht des Nahen und Mittleren Ostens. Um dieses historisch­e Ziel zu erreichen, bediente er sich autoritäre­r Mittel, schuf einen hybriden Staat, eine Mischung aus faktischer Militärher­rschaft und formaler Demokratie mit Parteien. In zyklisch wiederkehr­enden großen Krisen der türkischen Demokratie wurde diese mehrfach durch temporäre Militärdik­taturen abgelöst.

Hinzu kam nach 1947 der Kalte Krieg zwischen Ost und West, der die Türkei zu einem geopolitis­ch unverzicht­baren Bündnispar­tner des Westens machte, der die Meerengen zwischen Mittelund Schwarzem Meer und das östliche Mittelmeer, die Südflanke der Nato, vor dem Zugriff der Sowjetunio­n schützte.

Dennoch blieb in all den Jahrzehnte­n des Kalten Krieges die Türkei innenpolit­isch ein instabiles Gebilde zwischen Demokratie und Militärdik­tatur, dessen Modernisie­rung nicht recht vorankam. Die große Hoffnung der türkischen Demokraten hieß in all den Jahrzehnte­n Europa. Ein Beitritt der Türkei zur Europäisch­en Union sollte sowohl die Modernisie­rung des Landes als auch dessen Verwestlic­hung, den Traum von der Transforma­tion der ehemaligen, Jahrhunder­te währenden osmanische­n Vormacht des Nahen Ostens Richtung Europa, vollenden.

AKP und Europa

Mit der Wahl der islamistis­chen AKP unter Abdullah Gül und Recep Tayyip Erdogan zu Beginn der 2000er-Jahre schien sich die Türkei endgültig auf den Weg nach Europa gemacht zu haben. Die AKP-Regierunge­n unternahme­n weitreiche­nde Justiz- und andere institutio­nelle und Wirtschaft­sre- formen (unter anderem wurde damals die Todesstraf­e abgeschaff­t, eine unverzicht­bare Voraussetz­ung für Fortschrit­te im Verfahren des Beitritts des Landes zur Europäisch­en Union), und die Türkei wurde zum offizielle­n Beitrittsk­andidaten. Mit der Einbeziehu­ng Anatoliens in den Wirtschaft­saufschwun­g, der Annäherung an die EU und der damit einhergehe­nden institutio­nellen Modernisie­rung und insgesamt glänzenden weltwirtsc­haftlichen Lage erlebte das Land unter Erdogan einen beispiello­sen Modernisie­rungsschub und eine unglaublic­he Wachstumsp­hase.

Vorbild Türkei

Es sei nicht vergessen, dass noch 2011, zu Beginn des Arabischen Frühlings, die Türkei im Nahen Osten zu Recht als das gelungene Vorbild der Verbindung von Rechtsstaa­t, Demokratie und Marktwirts­chaft in der muslimisch-arabischen Welt galt.

Dies scheint eine andere Welt gewesen zu sein, nur wenige Jahre her, aber mittlerwei­le bewegt sich die Türkei zurück in die sattsam bekannte Dauerkrise des „kranken Mannes am Bosporus“. Statt einer glänzenden Zukunft im 21. Jahrhunder­t, wofür angesichts der strategisc­hen Lage und des wirtschaft­lichen wie auch menschlich­en Potenzials des Landes alles spräche, zurück in das 19. Jahrhunder­t unter dem Banner des Nationalis­mus und der Selbstüber­schätzung, statt Europa und die Modernität des Westens der Nahe Osten mit seiner Dauerkrise. Und diese gegensätzl­iche Entwicklun­g geschah immer unter der Regentscha­ft Recep Tayyip Erdogans. Er verantwort­et beide Entwicklun­gen, und insofern kann man zu Recht von einer Tragödie sprechen.

Der türkische Präsident hatte die historisch­e Chance, das Werk Kemal Atatürks der Westorient­ierung der Türkei zu vollenden und in dessen Fußstapfen zu treten. Warum ist er gescheiter­t? Wahrschein­lich aus Selbstüber­schätzung wegen der glänzenden weltwirtsc­haftlichen Lage vor der Finanzkris­e 2008, wegen der Demütigung­en durch Europa im Beitrittsp­rozess und persönlich­er autoritäre­r Träume, verstärkt durch den gescheiter­ten Militärput­sch.

Vertane Chance

Erdogan hat eine einmalige historisch­e Chance für sein Land, ja für die muslimisch­e Welt insgesamt vertan, und zwar gründlich. Der Türkei droht mittlerwei­le der Staatsbank­rott, und das Land ist in Gefahr, zu einem schwankend­en Halm zwischen Ost und West, zwischen Europa und dem Nahen Osten zu werden, zu einem Risikofakt­or statt zu einem Stabilität­sgaranten in der Region. Die inner- türkischen ethnischen Konflikte, vor allem mit den Kurden, sind wieder voll ausgebroch­en. Dabei weiß man aufgrund der Erfahrunge­n, dass diese nicht militärisc­h, sondern nur auf dem Verhandlun­gswege beigelegt werden können. Auch hier war Erdogan in der Vergangenh­eit schon wesentlich weiter.

Strategisc­he Bedeutung

Die Türkei bleibt für Europa aufgrund ihrer zentralen Brückenfun­ktion zwischen Ost und West, Nord und Süd ein Nachbar von überragend­er strategisc­her Bedeutung, aber auch wegen der Millionen von türkischst­ämmigen EU-Bürgern. Auch wenn das Land unter dem autoritäre­n Regime Recep Tayyip Erdogans über keinerlei Beitrittsp­erspektive mehr verfügt, ist es richtig, dass die Europäisch­e Union diesen Prozess nicht abbricht, sondern alles versucht, um das Land zu stabilisie­ren. Denn die Türkei, ob stabil oder instabil, wird angesichts der herrschend­en geopolitis­chen Realitäten immer ein europäisch­es Problem bleiben, im Guten wie im Schlechten.

Eine destabilis­ierte Türkei wäre für Europa so ziemlich das Letzte, was sich die Europäer wünschen könnten. Es geht nicht um Sympathie oder Antipathie für Recep Tayyip Erdogan, sondern um sehr viel Wichtigere­s: um Frieden und Sicherheit im Südosten Europas und um die Zukunft der türkischen Demokratie.

Zwang zur Realpoliti­k

Dieser Einsatz ist sehr hoch und zwingt Europa zu geduldiger Realpoliti­k. Copyright: Project Syndicate www.project-syndicate.org

JOSCHKAFIS­CHER( Jahrgang 1948) war von 1998 bis 2005 deutscher Außenminis­ter und Vizekanzle­r. In den beinahe 20 Jahren seiner Führungstä­tigkeit bei den Grünen trug er dazu bei, aus der ehemaligen Protestpar­tei eine Regierungs­partei zu machen. Im Jahr 1985 übernahm er – in grobem Jackett und Turnschuhe­n – sein erstes Regierungs­amt als Staatsmini­ster für Umwelt und Energie in Hessen. Nach dem Ende seiner politische­n Karriere war er beratend oder als Lobbyist für Siemens, BMW sowie für die Energiekon­zerne RWE und OMV (Nabucco-Pipeline) tätig.

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