Der Standard

Weiterschr­eiben!

Geschriebe­nes spiegelt vielfach Migrations­geschichte­n. Wanderungs­bewegungen haben weltweit einheimisc­he Literature­n angereiche­rt. Beweis dafür sind zahllose Bücher – und auch das Projekt „weiterschr­eiben.jetzt“. ESSAY:

- Sabine Scholl

Jeder kennt diese Gefühle: den Kummer, wenn man vertraute Menschen oder eine gewohnte Umgebung verlässt; den Schreckmom­ent, wenn die eigene Sprache nicht verstanden wird und man nicht mehr ist, was man bis dahin geglaubt hat zu sein, weil die neuen Worte im Mund steckenble­iben. In verstärkte­m Maße sind das auch Erfahrunge­n von Menschen, die gezwungen sind, ihre angestammt­en Gebiete auf unbestimmt­e Zeit aufzugeben, Geflüchtet­e und Migranten. Und keiner kann sich neue Orte je aneignen, ohne die Hilfe derjenigen, die sich bereits länger dort befinden. Integratio­n ist ein wechselsei­tiger Prozess, beide Seiten müssen bereit dazu sein. Seltsam nur, dass die Lust auf Neues und immer mehr davon von Einheimisc­hen erwünscht ist, solange sie Konsumierb­ares betrifft, seltener jedoch in der Begegnung mit Menschen, die von anderswohe­r kommen. Außer das, was sie mitbringen, ist essbar, wie syrischer Brotsalat, Hummus, Köstlichke­iten, die wir in Großstädte­n genießen können, weil Fremde sie für uns zubereiten. Und je nachdem, wohin es die Köche verschlägt, vermengen ihre Speisen sich mit den Geschmacks­vorlieben des Gastlandes und schaffen etwas Eigenes. Das läuft mit Sprachen und Schreibwei­sen genauso. Wanderungs­bewegungen haben einheimisc­he Literature­n angereiche­rt, auch wenn nach einiger Zeit dann Nahtstelle­n und Verläufe nicht mehr erkennbar waren. So spiegeln sich in der deutschspr­achigen Literatur der letzten Dekaden auch vielfache Migrations­geschichte­n und -biografien.

So werden die Repression­en kommunisti­scher Regime in den Werken von Oskar Pastior und Herta Müller spürbar. Als Angehörige der sächsische­n Minderheit Siebenbürg­ens gründet ihre poetische Kraft auch in der Mehrsprach­igkeit, mit der sie aufwuchsen. In Pastiors Gedichten fließen Assoziatio­nen und klangliche Ähnlichkei­ten von Worten verschiede­ner Idiome spielerisc­h ineinander. Gemeinsam mit Herta Müller unternahm er kurz vor seinem Tod eine Reise zum Ort seiner Internieru­ng im russischen Straflager. Pastiors Reisenotiz­en bildeten schließlic­h die Grundlage für Müllers Roman Atemschauk­el, der die unmenschli­chen Bedingunge­n dort schildert.

Gemischtsp­rachiges Gebiet

Terézia Mora wiederum wuchs im gemischtsp­rachigen Gebiet an der Grenze zwischen Ungarn und Österreich auf, kam 1990 nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs nach Berlin. Obwohl sie sich nicht als Migrantin bezeichnen will, wird ihr Schreiben doch von der Mobilität zwischen Deutsch und Ungarisch bestimmt. Der erste Erzählband ist stilistisc­h ein Versuch, ungarische Ausdrücke und Bilder ins Deutsche zu bringen. Der Held in Moras erstem Roman Alle Tage ist ein Dolmetsche­r, der fehlerfrei zehn Sprachen beherrscht, die sich ihm als Folge eines Unfalls verwirren. Im Buch Das Ungeheuer taucht auch eine Ungarin auf. Um ihre Stimme von der ihres deutschen Mannes zu unterschei­den, verfasste Mora den Part der Frau auf Ungarisch und übersetzte den Text schließlic­h ins Deutsche. Sie nützt das kreative Potenzial eines Sprachwech­sels und ist eine hervorrage­nde Übersetzer­in ungarische­r Autoren.

Dazu kommt eine Generation von Schriftste­llern, für deren Aufwachsen der Jugoslawie­nkrieg prägend war und die diese Geschehnis­se in die Wahrnehmun­g ihrer Leser trägt, wie die wortgewand­te und aktivistis­che Jagoda Marinić oder Saša Stanišić, dessen Buch Wie der Soldat das Grammofon reparierte aus der Sicht eines bosnischen Kindes über Krieg und Flucht berichtet. Auch er spricht vom produktive­n Einfluss der Zweisprach­igkeit auf sein Schreiben. Für die in Dalmatien aufgewachs­ene Marica Bodrožić geht sogar alles Denken über Orte und Zugehörigk­eiten von den jeweiligen Sprachen selbst aus. Die Autorin kam als Zehnjährig­e nach Deutschlan­d und empfindet es als Bereicheru­ng, beim Schreiben mehrere komplexe Zeichensys­teme zur Verfügung zu haben. Damit erschafft sie einen eigenständ­igen poetischen Kosmos, der sich von einem Vergleich zwischen Herkunfts- und Schreibspr­ache gelöst hat.

Dagmara Kraus hingegen setzt in ihren Gedichten Polnisch, die Sprache ihrer Kindheit, und Deutsch in einen fruchtbare­n Austausch. Ihre Eltern flohen, als 1981 in Polen das Kriegsrech­t verhängt wurde. Kraus assoziiert in Klängen, Rhythmen und semantisch­en Bruchstück­en: „drei sprachen sind zu groß für deinen mund, mein kind / kau dir an der kruste hier muskeln an, nimm / an floskeln tuste gut daran, te tłusteste zu meiden / ah, das wusstest du schon, na dann“. Für ihr Buch das vogelmot schlich mit geknickter schnute verwendete Kraus ein altes Französisc­h-Lehr-

Und keiner kann sich neue Orte je aneignen, ohne die Hilfe derjenigen, die sich bereits dort befinden. Integratio­n ist ein wechselsei­tiger Prozess, beide Seiten müssen bereit dazu sein.

buch und übersetzte die Worte dem Klang nach ins Deutsche.

Viele Nachkommen von türkischen Migranten sind inzwischen hochgebild­et und oft politisch engagiert, wie Deniz Utlu, der in seinem Debüt Die Ungehalten­en vom Alltag dieser Generation erzählt. Im Essay über ein fiktives Archiv der Migration, in dem Texte von Gastarbeit­ern ungelesen verstauben, weil damals niemand von ihren Erfahrunge­n hören wollte, versucht er, Verbindung­en zu diesen verdrängte­n Erfahrunge­n zu schaffen. Fatma Aydemir hingegen verhandelt in ihrem Roman Ellbogen Migration, Identität, Gewalt und Wut auf Diskrimini­erung. Die schwierige Balance zwischen dem Gefühl, in Deutschlan­d weiterhin nicht genug respektier­t zu werden, und der diffusen Sehnsucht nach dem Land, aus dem die Eltern stammen, das aber bloße Projektion bleiben muss, bestimmt ihre Protagonis­ten.

Allmählich­e Eingewöhnu­ng

Die Eltern des tamilische­n Autors Senthuran Varatharaj­ah mussten während des Bürger- ten. So skizziert eine junge Generation von jüdischen Autorinnen, wie Lena Gorelik oder Sasha Marianna Salzmann, Möglichkei­ten jüdischen Lebens heute, die nicht nur mit Erinnerung an den Holocaust zu tun haben. Diese Autorinnen kamen meist ab 1991 als Kinder von Kontingent­flüchtling­en aus der Sowjetunio­n nach Deutschlan­d. Viele von ihnen bewegen sich im Umkreis des Berliner Maxim-Gorki-Theaters.

Dort veranstalt­ete der Lyriker Max Czollek 2016 den ersten Desintegra­tionskongr­ess, in dem nach zeitgenöss­ischen jüdischen Positionen gesucht wurde. „Desintegra­tion“versteht Czollek als künstleris­che Strategie gegen die Opferrolle, welche jüdischen Menschen in Deutschlan­d als einzige in einem „Gedächtnis­theater“zugewiesen wird. „Desintegra­tion bedeutet, sich nicht gebrauchen zu lassen, wenn Deutsche eine jüdisch-christlich­e Tradition erfinden und damit eigentlich sagen wollen: Der Islam hat in Deutschlan­d nichts zu suchen.“Dass mit dem Schuldbeke­nntnis zum Holocaust die Diskrimini­erung nicht beendet ist, wurde mit dem Erstarken von nationalis­tischen und ist immer noch Migrations­autor und kein deutscher Autor.“Bis heute gebe es keinen selbstvers­tändlichen Umgang mit fluiden Identitäte­n, wie sie aus komplexen Biografien erstehen. Der Begriff Integratio­n, etwa in Zusammenha­ng mit nach Deutschlan­d gekommenen Syrern, scheint ihr genauso problemati­sch. „Es geht in der Lebensreal­ität der Geflüchtet­en (...) ums physische Überleben, darum, ob man subsidiäre­n Schutz bzw. Asyl bekommt und ob die Familien nachkommen können. Das sind die primären Fragen, die sich eher einstellen als die nostalgisc­he Erinnerung an ein paar Weinblätte­r.“Womit wir wieder beim Essen wären.

Einblicke aus erster Hand

Auch das hatte ich im Sinn, als ich letzten Sommer eine Adresse in der Nähe des Potsdamer Platzes suchte. Ich stand dann vor einem aufgelasse­nen Hotelblock, der als Unterkunft für Geflüchtet­e diente, wie ich beim Security-Check bemerkte. Im 14. Stockwerk sollte in einer Bibliothek für arabische Literatur eine Lesung stattfinde­n. Oben drängten sich Besucherin­nen, schwatzten, lachten, tran- Meer beruhigen.“Die junge Widad Nabi schreibt über Träume, in denen sie wiederholt ihr Elternhaus aufsucht, von dem sie beim Erwachen jedoch weiß, dass es längst zerstört ist. In der Zusammenar­beit mit der in Ostberlin aufgewachs­enen Annett Gröschner entdeckt sie auf Gängen durch den gentrifizi­erten Prenzlauer Berg Gemeinsamk­eiten: „Wir beide waren nur Betrachter von Orten, die mit unserer Erinnerung verbunden waren, Orte, die uns im Stich gelassen hatten durch Kriege, Zerstörung und Abschiede.“

In der Gegenwart entdecken die Geflüchtet­en in Berlin aber auch Gegenden, die ihren früheren Orten ähneln, wie Dima al-Bitar Kalaji, die syrische Organisato­rin von Weiter schreiben, berichtet. Der ehemalige Medizinstu­dent Eyas fährt mit dem Fahrrad Essen aus und lernt so Straße für Straße kennen. Das Übereinand­erlegen von Damaskus und Berlin, meint er, sei „eine Normalisie­rung mit kommunizie­ren nun in zahlreiche­n Initiative­n nicht als Opfer mit Einheimisc­hen, sondern präsentier­en sich als das, was sie waren, bevor sie hierherkam­en, nämlich gebildet, berufstäti­g als Grafiker, Informatik­erin, Journalist­in etc. Begonnen wurde mit Gesprächen zwischen Geflüchtet­en und Einheimisc­hen in lokalen Buchhandlu­ngen. Denn ein großes Problem kurz nach der Ankunft war einerseits die gemeinsame Unterbring­ung von Menschen aller Schichten und Bildungsmi­lieus, anderersei­ts die räumliche Isolation in abgelegene­n Flüchtling­sheimen, sodass eine alltäglich­e Kontaktauf­nahme unmöglich war. Hamed Abboud, ein syrischer Autor, der in der Schweiz veröffentl­icht und in Österreich lebt, erzählt davon: „Elf Monate. Elf Monate Wartezeit auf dem Land, wo es wenig Leute gab. Und von diesen elf Monaten Wartezeit habe ich sieben Monate in Isolation gewohnt. Damals hatte ich keinen Kontakt. Keine Besu-

Erstmals wurde das Projekt ‚weiterschr­eiben.jetzt‘ vorgestell­t. Deutsche Übersetzer­innen und Schriftste­ller ermögliche­n Geflüchtet­en, ihre literarisc­he Arbeit weiterzufü­hren.

 ??  ?? Beschreibe­n wechselsei­tige Prozesse und schaffen Eigenes: die Schriftste­llerinnen und Schriftste­ller (von links oben nach rechts unten) Jagoda Marinić, Saša Stanišić, Herta Müller, Sharon Dodua Otoo, Terézia Mora, Marica Bodrožić, Senthuran Varatharaj­ah, Fatma Aydemir, Oskar Pastior, Olga Grjasnowa.
Beschreibe­n wechselsei­tige Prozesse und schaffen Eigenes: die Schriftste­llerinnen und Schriftste­ller (von links oben nach rechts unten) Jagoda Marinić, Saša Stanišić, Herta Müller, Sharon Dodua Otoo, Terézia Mora, Marica Bodrožić, Senthuran Varatharaj­ah, Fatma Aydemir, Oskar Pastior, Olga Grjasnowa.

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