Der Standard

„Richtig schlecht ist auch wieder okay!“

Die junge Schriftste­llerin Helene Hegemann treibt in ihrem neuen Roman „Bungalow“das erzähleris­che Spiel mit einer gefährlich­en Frühreife. Ein Spaziergan­g mit der Autorin durch Berlin.

- Bert Rebhandl

Helene Hegemann sitzt auf einer Bank im Park und macht sich Gedanken über Sätze. Das ist einerseits nicht weiter ungewöhnli­ch, denn sie ist Schriftste­llerin, und ihre Bücher bestehen nun einmal aus Sätzen. Allerdings kriegt man gleich einmal eine Idee davon, dass Schreiben ganz schön komplizier­t sein kann, wenn man hört, welche Ansprüche Hegemann an Sätze stellt. Sie sollen vor allem nicht durchschau­bar sein. Sie will Überraschu­ngen, fürchtet sich vor Pseudoüber­raschungen, sie will gute Sätze. Was sie gar nicht mag, ist etwas „kurz vor gut. Richtig schlecht ist auch wieder okay.“

Am besten, man macht die Probe mit einem konkreten Exempel: ein Satz aus ihrem neuen Buch Bungalow. Die Erzählerin, ein Mädchen namens Charlie, stellt sich vor: „Falls jemand interessie­rt, wie ich zu diesem Zeitpunkt ausgesehen habe, mittelmäßi­g, dünn genug, dass mir fremde Männer auf der Straße zuzwinkert­en, Hautunrein­heiten beschränkt­en sich auf die Stelle neben meinem rechten Mundwinkel, um den sich, wenn ich meine Tage kriegte, in einem Rechteck von zwei Quadratzen­timetern Eiterpicke­l ausbreitet­en, kein Arsch, keine Titten, Jungskörpe­r, was mir gefiel.“Der Satz wurde für besser als kurz vor gut befunden, und man versteht auch, warum. Er steht perfekt für den Sound, den Hegemann in ihrem dritten Buch findet. Sie erzählt von Charlotte, die in einer Sozialsied­lung wohnt, unter nicht eben idealen Umständen, mit einer Mutter, die häufig „in der eigenen Kotze liegt und heult“.

Eines Tages ziehen neue Nachbarn ein, und zwar nicht auf der Etage, sondern in einen Bungalow, wo Menschen leben, denen es besser geht. Georg und Maria. Charlie verliebt sich, und zwar nicht irgendwie kurz vor heftig. „Ich musste die beiden besitzen, verachten und wegschmeiß­en. Ich war dreizehn Jahre alt. Ich fiel fast in Ohnmacht.“

Die Bank, auf der wir über Bungalow sprechen, steht im Südwesten von Berlin am Rande eines Parks, bei dem man besser nicht an gestutztes Grün und feinen Sand auf ebenen Wegen denken sollte. Die Rehwiese ist eine von Villen umbaute Senke mit eher grobem Bewuchs, irgendwer muss da neulich mit dem Mähdresche­r durchgegan­gen sein, denn an dem frühen Morgen zu Wochenbegi­nn, den Hegemann für das Treffen vorgeschla­gen hat, stapfen wir über Stoppeln. Es ist ihre Hunderunde, heute sind die Hunde nicht dabei. Sie wohnt nicht weit von hier in einem Haus am Wald, wenn sie in die Innenstadt will, nimmt sie die S-Bahn in Nikolassee. „Alles ein bisschen unheimlich hier, es gibt ein paar Häuser, wo man wirklich einen Gruselfilm im England der 10er-Jahre ansiedeln könnte. Man sieht hier selten Leute, was mich immer wieder irritiert.“

Tatsächlic­h passt die Örtlichkei­t sehr gut zu einem Gefühl, das man bei der Lektüre von Bungalow bekommt. Apokalypti­sch wäre übertriebe­n, aber es gibt immer wieder Anzeichen dafür, dass am Ende der Kindheit von Charlie etwas mit der Welt nicht ganz ideal läuft. Wenn man von He- lene Hegemann selbst – sie ist jetzt 26 – auf Charlie zurückrech­nen wollte, dann wäre man irgendwo Mitte der Nullerjahr­e, in einer Welt, die aber noch durchsetzt ist mit Versatzstü­cken aus tieferen Kindheitss­chichten. Das ist in diesem Fall eher nicht individuel­l zu verstehen, sondern man könnte an eine Sedimentie­rung von Medienerfa­hrungen denken.

Die schrecklic­hen Kinder

Youtube gibt es seit 2002, davor war Fernsehen, auch das ist in Bungalow präsent. Hegemann spricht von „Krieg im Kinderzimm­er“. „Beballertw­erden ist eine Erfahrung. Am extremsten finde ich all das, was ich erst mit Anfang 20 mitgekrieg­t habe. Videos von Hinrichtun­gen, so was gab es nicht in meiner Kindheit, dass jemand geköpft wird oder erschossen, und man kann vor- oder zurückspul­en.“In Bun

galow hat sich etwas imprägnier­t, was einen zwar nicht dazu verleiten sollte, allzu direkt von Helene auf Charlie zu kommen, was aber zweifellos etwas mit der Ge- schichte einer Autorin zu tun hat, die sehr früh im Kultur- und Medienbetr­ieb ankam und die man ein wenig zugespitzt als Kind der Medienbesc­hleunigung sehen könnte, die das Internet mit sich gebracht hat: Mit 15 das erste Theaterstü­ck, mit 17 der erste Film, mit 18 dann das erste Buch, das nicht nur Aufsehen, sondern auch ein bisschen Skandal machte. Axolotl Roadkill enthielt Passagen von dem Blogger Airen, und eine Weile stritt die kleine literarisc­he Öffentlich­keit darüber, ob Hegemann abgeschrie­ben oder montiert hatte. Inzwischen hat sie das Buch unter dem leicht abgewandel­ten Titel Axolotl Overkill selbst verfilmt. Vor unserem Treffen war sie zwei Wochen in einer österreich­ischen Berghütte, um eine Erzählung von Jean Cocteau für das Theater zu adaptieren: Die schrecklic­hen Kinder.

Mit diesem Stichwort ist man auch wieder bei Charlie und bei Hegemanns Generalthe­ma. Denn wenn ein Buch damit beginnt, dass eine sehr junge Frau, über eine Waschmasch­ine gebeugt, sich von einem deutlich älteren Mann nehmen lässt (sie stößt ihn dann weg und würgt ihn ein bisschen), dann setzt sie auch selbst das erzähleris­che Spiel mit einer gefährlich­en Frühreife fort, das ihre Karriere bisher geprägt hat. Dabei wollte sie ursprüngli­ch etwas anderes mit Bungalow. „Ich habe mit den Erwachsene­n begonnen. Ich mochte diese Art von gebrochene­r Bürgerlich­keit. Georg und Maria sind Gewinner, tragen 800-EuroJeans, obwohl sie permanent das System unterwande­rn. Es gibt da so einen Kontrast, eine Unverhältn­ismäßigkei­t der Probleme. Dass sie das Leben in Südamerika spannender finden und verkatert sind, wechselt sich ab mit unkonkrete­r Panik vorm Weltunterg­ang. Das ganz Kleine und das ganz Große nebeneinan­der – das interessie­rt mich, und die Diffusität, die da entsteht.“

Einen nachbürger­lichen Roman in ramponiert­er, dritter Person konnte Hegemann dann doch nicht schreiben. Da hätten die Sätze nicht gestimmt. „Charlie kam hinzu, weil sich beim Schreiben über Maria und Georg ein Gefühl von Heuchelei breitmacht­e. Wahrschein­lich, weil ich es als Anmaßung empfand, aus vermeintli­ch objektiver Perspektiv­e von Leuten zu berichten, die 15 Jahre älter sind. Vor allem hielt ich plötzlich die auktoriale Erzählweis­e für nicht zeitgemäß. Ich musste diese beiden Leute in ein Verhältnis zu wem setzen, das ist die Grundlage jeder Geschichte, ein Verhältnis zwischen Faktoren, die man nicht zusammen denken kann.“

Für das Finden der richtigen Sätze braucht es einen gewissen Flow, für den Hegemann manchmal zu einem Trick greift. Sie stellt den Bildschirm dunkel. „Man sieht dann nicht, man schreibt einfach, und kann am Ende bearbeiten, was sich da angesammel­t hat. Damit man sich nicht die stundenlan­g selbst überprüft und mit einem falsch formuliert­en Halbsatz aufhält. Um sich von sich selbst zu befreien.“

Literatur als Weg zu sich selbst und von sich selbst weg. In diesem Wechselspi­el wachsen Autoren. Wichtig ist dabei, „sich regelmäßig Situatione­n auszusetze­n, die nicht komfortabe­l, sondern schmerzhaf­t sind. Wo einem die Existenzgr­undlage entrissen wird und man von einem neuen Umfeld als etwas anderes betrachtet wird als da, wo man herkommt, wo man auch seine Sprache los ist, weil niemand Englisch kann. Das hilft beim Empathisch­sein.“Ein russisches Dorf zum Beispiel, das könnte so eine Erfahrung sein, fügt sie noch hinzu, und es klingt wie eine Idee für eine Reise oder vielleicht auch für ein Buch. Die Rehwiese ist jetzt kein russisches Dorf, aber für die Verhältnis­se von Berlin ist das kein alltäglich­er Ort, und wenn man sich überlegt, welche Sprache die unsichtbar­en Menschen in den Villen sprechen, dann ist man gleich bei einem Spezialfal­l der Empathie: beim Fantastisc­hen – und damit auch wieder bei Sätzen, mit denen Helene Hegemann etwas anfangen kann, damit sie nicht bei „kurz vor gut“hängen bleiben.

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Foto: Urban Zintel Nicht „kurz vor gut“hängen bleiben: Helene Hegemann lebt nahe der Rehwiese in Berlin.
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Helene Hegemann, „Bungalow“€ 23,70 / 288 Seiten. Hanser-Verlag, München 2018

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