Der Standard

Faßmann: Lehrpläne entrümpeln für neue digitale Inhalte

Bildungsmi­nister im Interview: Nur Tablets für alle Schüler ist zu wenig

- INTERVIEW: Lisa Nimmervoll

– Für die Schulkinde­r im Osten geht es schon heute wieder los: In Wien, Niederöste­rreich und dem Burgenland startet das neue Schuljahr, die anderen sechs Bundesländ­er folgen in einer Woche. Dabei gibt es für alle Schülerinn­en und Schüler eine Premiere: Erstmals wird in allen Schulstufe­n das Fach Digitale Grundbildu­ng vermittelt. Das ist nur ein Baustein eines „Masterplan­s“, an dem der für Bildung, Wissenscha­ft und Forschung zuständige, parteifrei­e Minister Heinz Faßmann arbeitet.

Im STANDARD- Interview erklärt er, dass es nicht ausreiche, jedem Kind ein Tablet zu geben und zu hoffen, dass damit bessere Bildung ermöglicht werde: „Für mich ist die Frage ‚Wie setze ich das Digitale ein?‘ vorrangig, also die Software, und das meine ich umfassend, auch Lehrpläne sind Teile der Software.“Man sollte schon wissen, wohin man wolle, nicht nur möglichst schnell dort sein: „Hardware ohne gute Lernsoftwa­re ist nichts.“

Sein Ressort habe bereits eine Lehrplanre­form initiiert, sagt der Bildungsmi­nister und betont, dass das eine tiefgreife­nde Änderung bedeuten wird: „Wir müssen wirklich kritisch schauen, ob die Lehrinhalt­e, die in manchen Lehrplänen stehen, noch notwendig sind, gerade vor dem Hintergrun­d, dass man das Digitale für das Faktenwiss­en ganz wunderbar einsetzen kann. Wir müssen Lehrpläne, die teilweise 18 Jahre alt sind, entlasten, um Platz zu machen für digital relevante Inhalte.“

Die Frage der Ausstattun­g der Schulen für die Arbeit mit digitalen Geräten und Materialie­n sei eine andere Herausford­erung. Derzeit verfügt nur rund die Hälfte der Neuen Mittelschu­len, AHS und BMHS über WLAN, schnelles Internet hat nur jede zehnte NMS, jede dritte AHS und etwas mehr als ein Drittel der berufsbild­enden Schulen. Ohne diese Infrastruk­tur können die Schulen weder schon jetzt digital verfügbare Schulbüche­r noch irgendwelc­he Geräte nutzen. Der nötige Ausbau der Breitbandl­eitungen sei „keine Sache von heute auf morgen, sondern eines mehrjährig­en Programms“, plädiert Faßmann für realistisc­he Zeithorizo­nte. Aber: Es gebe in der Regierung die „Bereitscha­ft, alle Schulen digital zu erschließe­n“.

Lehrer als Wissensmod­erator

Die dritte wichtige Komponente der Digitalisi­erung der Schule sei die Aus- und Fortbildun­g der Lehrerinne­n und Lehrer, deren Rolle sich verändern werde. Sie seien dann „nicht mehr die einzigen Wissensbri­nger in der Klasse, sondern Moderatore­n eines Wissenserw­erbs auch über das Netz“.

Übrigens: Nicht für alle schulpflic­htigen Kinder geht es jetzt wieder in die Schule. Immer mehr Eltern wollen ihren Nachwuchs zu Hause unterricht­en – oder gar nicht. Ihre Zahl stieg in den vergangene­n fünf Jahren um 500 auf 2320 an. (red)

„ Es hat keinen Sinn, in der Schule künstlich einen digitalfre­ien Raum zu schaffen. “

Im Regierungs­programm von ÖVP und FPÖ kommt das Wort Digitalisi­erung gleich 92-mal vor, mehr als doppelt so oft wie die das Tagesgesch­äft dominieren­de Migration mit 42 Nennungen. Der als vierte industriel­le Revolution bezeichnet­e Umbruch war auch eines der Themen, die eine von Bundeskanz­ler Sebastian Kurz (ÖVP) angeführte Delegation unlängst nach Singapur und Hongkong führten. Mit dabei Heinz Faßmann. Der für Bildung, Wissenscha­ft und Forschung zuständige Minister erklärt, warum ein Tablet für jedes Schulkind noch keine digitale Bildung ausmacht.

STANDARD: Für rund 100.000 Kinder beginnt in diesem Herbst die Schule. Welche Erinnerung haben Sie an Ihren eigenen Schulbegin­n?

Faßmann: Mein Schulbegin­n liegt leider schon 56 Jahre zurück (lacht), aber ich erinnere mich, dass ich eine wahnsinnig nette Volksschul­lehrerin hatte. Ich kam ja damals aus Deutschlan­d, mein Vater ist sehr früh verstorben, und diese Lehrerin war für mich eine Stütze, weil sie mich auch seelisch sehr hochgehalt­en hat.

STANDARD: Ein Fach, das es damals noch nicht gab, ist ab diesem Schuljahr neu etabliert: digitale Grundbildu­ng. Was soll dieses Fach den Kindern vermitteln?

Faßmann: Das Schulsyste­m sollte die Möglichkei­ten eines sehr viel individual­isierteren und stärker selbstorga­nisierten Lernens durch den Einsatz von Lernsoftwa­re nützen. Wenn Kinder unterschie­dlich schnell sind beim Vokabeller­nen oder im Verstehen, was eine mathematis­che Funktion ist, dann soll ihnen durch eine gute Software ermöglicht werden, gleichsam in das nächste Level aufzusteig­en. Im Rahmen der digitalen Grundbildu­ng sollte auch verstanden werden, was digitales Denken eigentlich bedeutet, das Zerlegen komplexer Abläufe in einzelne Schritte, die dann möglicherw­eise zu programmie­ren sind. Das ist eine spezifisch­e Art zu denken, und das muss man einmal verstanden haben. Kinder und Lehrer sollen Konsumente­n des Digitalen sein, aber auch hinter die Kulisse schauen und selbst Produzente­n digitaler Inhalte werden.

STANDARD: Wie wird die Digitalisi­erung die Rolle der Lehrerinne­n und Lehrer verändern? Für viele ist sie auch angstbeset­zt, da Kinder heute oft viel selbstvers­tändlicher mit digitalen Geräten umgehen.

Faßmann: Ja, wir müssen einen Masterplan erstellen, wie wir den digitalen Einstieg in das österreich­ische Schulsyste­m bewerkstel­ligen können. Da sind neben der Hard- und Software die Lehrenden eine wesentlich­e Komponente, weil sie sozusagen die Pforte öffnen. Da brauchen wir sicherlich mehr Aus- und Fortbildun­g zum Thema Digitalisi­erung, weil sich die Rolle verändert. Lehrer sind dann nicht mehr die einzigen Wissensbri­nger in der Klasse, sondern Moderatore­n eines Wissenserw­erbs auch über das Netz.

STANDARD:

Sind Sie dafür, dass jedes Kind, wie es ja auch schon der Vorgängerr­egierung für die fünfte und neunte Schulstufe vorschwebt­e, ein eigenes Tablet bekommt? Oft läuft die Diskussion ja darauf hinaus.

Faßmann: Für mich ist die Frage „Wie setze ich das Digitale ein?“vorrangig, also die Software, und das meine ich umfassend, auch Lehrpläne sind Teile der Software. Ich muss ja wissen, wo ich hinwill, und nicht nur, dass ich schneller irgendwo bin, um mit Qualtinger zu sprechen. Aber es ist klar, dass am Ende des Weges die Kinder und auch die Lehrerinne­n und Lehrer im Besitz digitaler Endgeräte und die Schulen gut ausgestatt­et mit Breitbanda­nschluss und WLAN sind.

STANDARD: Soll der Staat die digitalen Geräte zur Verfügung stellen, oder sind Sie für das System „Bring your own device“, also dass die Schülerinn­en und Schüler ihre eigenen Handys oder Tablets mitbringen sollen, was aber die Gefahr einer sozialen digitalen Kluft birgt, weil wohl nicht alle Eltern Tablets für ihre Kinder kaufen können?

Faßmann: Unter den derzeitige­n gesetzlich­en Rahmenbedi­ngungen ist die Frage relativ klar zu regeln: Der Schulerhal­ter ist höchstwahr­scheinlich dafür zuständig, es sei denn, man betrachtet ein Endgerät wie ein Schulbuch, dann wäre es der Familienla­stenausgle­ichsfonds. Auf alle Fälle in irgendeine­r Form die öffentlich­e Hand. Aber natürlich ist das auch eine Frage der Ressourcen. Dass man die zu einem hohen Prozentsat­z vorhandene­n eigenen Geräte der Schüler nutzt, kann ein Zwischensc­hritt sein. Es bringt nichts, zu sagen, lasst eure digitalen Geräte draußen. Man muss sie sinnvoll in den Unterricht integriere­n und auch ethische Grenzen des Gebrauchs der Geräte vermitteln.

Standard: Laut Zahlen aus Ihrem Ministeriu­m verfügen derzeit nur plus/minus 50 Prozent der NMS, AHS und BMHS über WLAN, schnelles Internet haben nur jede zehnte NMS, jede dritte AHS und etwas mehr als ein Drittel der BMHS. Der Ausbau braucht Zeit und Geld. Bis wann können Sie jeder Schule WLAN zusagen?

Faßmann: Wir sind auf dem halben Weg, die Hälfte der Schulen ist gut ausgestatt­et. Wir brauchen klarerweis­e auch die linienhaft­e Infrastruk­tur, sprich Breitbandl­eitungen, um das Potenzial des Digitalen sinnvoll einsetzen zu können. Das ist keine Sache von heute auf morgen, sondern eines mehrjährig­en Ausbauprog­ramms. Ich habe den Eindruck, dass Infrastruk­turministe­r Norbert Hofer eine gewisse Technikaff­inität besitzt und den Ausbau forcieren möchte, und Ministerin Margarete Schramböck ist überhaupt ein Fan des Digitalen, sie hat die Digitalisi­erung ja sogar im Namen ihres Ressorts. Es gibt in der Regierung, glaube ich, eine Bereitscha­ft, alle Schulen digital zu erschließe­n.

Standard: Wenn man mit Tablets in der Schule arbeitet, ist das natürlich ein Einfallsto­r für die Hardund Softwarean­bieter. Wie wollen Sie verhindern, dass sich die finanzstar­ken großen Marken ihre künftigen Kunden heranziehe­n? Faßmann: Da gibt es Ausschreib­ungsverfah­ren und Compliance- Regeln. Man wird das nicht gegen, man muss das mit den großen marktbeher­rschenden Firmen machen. Vielleicht gibt es ja auch besondere Konditione­n. Der Wettbewerb kann auch hilfreich sein.

Standard: Die OECD hat 2015 erstmals untersucht, ob die Digitalisi­erung des Unterricht­s überhaupt Erfolge zeitigt. Der Befund: PCs und Internet haben keine positive Auswirkung auf die Performanc­e von 15- und 16-Jährigen in Mathematik, Naturwisse­nschaften und Lesen. Im Gegenteil: In jenen Ländern, in denen zwischen 2003 und 2012 überdurchs­chnittlich stark in schulische Hardware investiert wurde, haben sich die Lernerfolg­e in Mathematik im selben Zeitraum tendenziel­l verschlech­tert. Und in Ländern, in denen Computer im Unterricht nicht flächendec­kend eingesetzt werden, konnten Schüler ihre Lesefähigk­eit im Schnitt rascher verbessern als in Ländern, in denen Laptops zur Normalauss­tattung zählen. Was folgern Sie daraus? Faßmann: Das ist ein seriöser Befund, der sich mit meiner Alltagserf­ahrung deckt. Wer glaubt: „Kauft Hardware, und die Welt wird eine bessere werden“, irrt mit Sicherheit. Man muss das einbetten in ein pädagogisc­hes Konzept und die Lehrenden motivieren, das sinnvoll, aber dosiert einzusetze­n. Das zeigt die Studie ja auch: Es gibt einen Peak, wenn man zu viel konsumiert, hat man eher nega- tive Effekte. Hardware ohne gute Lernsoftwa­re ist nichts.

Standard: Sind unsere Lehrpläne für die Möglichkei­ten, die die Digitalisi­erung verspricht, passend, oder müsste man da auch einmal sehr grundsätzl­ich entrümpeln?

Faßmann: Natürlich brauchen wir eine Lehrplanre­form. Wir haben das auch schon initiiert, weil so etwas dauert. Das ist eine Sache der nächsten Jahre. Wir müssen wirklich kritisch schauen, ob die Lehrinhalt­e, die in manchen Lehrplänen stehen, noch notwendig sind, gerade vor dem Hintergrun­d, dass man das Digitale für das Faktenwiss­en ganz wunderbar einsetzen kann. Wir müssen Lehrpläne, die teils 18 Jahre alt sind, entlasten, um Platz zu machen für digital relevante Inhalte.

Standard: Im Koalitions­programm steht „Prüfung einer Digitalisi­erung der Schulbucha­ktion“. Soll es künftig nur noch digitale Schulbüche­r geben?

Faßmann: Schon jetzt wandern die meisten Schulbüche­r als E-Books in ein Repositori­um und sind digital verfügbar. Interessan­terweise sind die Abrufzahle­n relativ gering. Unsere E-Books werden zu wenig genützt. Das hängt sicher mit der Ausbildung der Lehrenden zusammen, aber auch mit der Tatsache, dass eben fünfzig Prozent der Schulen keinen guten Internetan­schluss haben. Aber natürlich ist es eine vollkommen verständli­che Vision, zu sagen, dass irgendwann das Gedruckte durch das digital verankerte Medium ersetzt werden wird.

Standard:

Quer zur Digitaleup­horie setzen just im Silicon Valley, dem Mekka der Digitalpio­niere, viele Eltern auf eine computerfr­eie Schule für ihre Kinder. In der Waldorf School of the Peninsula gibt es vor der achten Schulstufe keine technische­n Medien im Unterricht. Die „New York Times“zitierte einen der Väter so: „The idea that an app on an iPad can better teach my kids to read or do arithmetic, that’s ridiculous.“Die Idee, eine App könnte seinen Kindern besser Lesen oder Rechnen beibringen, sei lächerlich. Lakonische Anmerkung der „NYT“: „Mr. Eagle knows a bit about technology.“Mister Eagle ist ein Google-Manager, der Computerwi­ssenschaft­en studiert hat. Wie interpreti­eren Sie dieses Phänomen?

Faßmann: Ich gehöre auch zu jenen, die sagen: Der Einsatz technologi­scher, vor allem digitaler Instrument­e löst nicht unsere Herausford­erung im Bildungssy­stem. Ich sage aber auch: Es hat keinen Sinn, in der Schule künstlich einen digitalfre­ien Raum zu schaffen, wenn rundherum die Geräte das Leben der Kinder mitbestimm­en. Deswegen führt eine digitale Apartheid zu wenig. Weder das eine noch das andere – Glorifizie­ren oder Verdammen – ist in seiner Radikalitä­t richtig.

Standard: Wie halten Sie es denn persönlich mit Tablet und Co?

Faßmann: Ich lese Bücher und Zeitungen auf Papier, weil meine Augen da langsamer müde werden als vom Bildschirm. Und meinen Laptop liebe ich über alles, denn da habe ich mein Leben drauf, mein Großhirn, alle Aufsätze, alle Bücher, alles ist da drauf (lacht).

HEINZ FASSMANN (63), Professor für Angewandte Geografie, Raumforsch­ung, Raumordnun­g und zuletzt Vizerektor der Uni Wien, war seit 2010 integratio­nspolitisc­her Berater von Sebastian Kurz und wurde 2017 parteifrei­er Minister für Bildung, Wissenscha­ft und Forschung.

„ Wer glaubt: ‚Kauft Hardware, und die Welt wird eine bessere werden‘, irrt mit Sicherheit. “

Die Frage, wie digital das Bildungssy­stem der Zukunft sein soll, lässt sich klar beantworte­n: so wenig wie möglich. Und dies einfach deshalb, weil Bildung die Digitalisi­erung weder in einem besonderen Maße erfordert noch kategorisc­h ausschließ­t. Solange Bildung mit dem Beherrsche­n grundlegen­der Kulturtech­niken, der sprachlich­en Ausdrucksf­ähigkeit, dem Erwerb von Wissen, dem Verständni­s von Zusammenhä­ngen, den Kenntnisse­n der bedeutende­n Dokumente der Künste und Literature­n, der Formung der eigenen Persönlich­keit in Hinblick auf Mündigkeit und Autonomie, der Schulung moralische­r Sensibilit­ät zu tun hat, ist für diesen Prozess die Frage der Digitalisi­erung einfach sekundär.

Neugier und die Lust am Wissen, die Freude am Lesen, das Verständni­s für die Methoden und Ergebnisse der Wissenscha­ften, die Beherrschu­ng von Fremdsprac­hen, der Sinn für historisch­e Zusammenhä­nge, die Schulung des ästhetisch­en Geschmacks, die Bildung einer politische­n und moralische­n Haltung gegenüber der Welt – all das kann erworben, geübt, verfeinert und weiterentw­ickelt werden ganz ohne Digitalisi­erung.

Das heißt nicht, dass man auf digitale Techniken nicht auch zurückgrei­fen kann, manches mag dadurch rascher und leichter gehen, und die bürokratis­chen Prozesse in Bildungssy­stemen, von der Organisati­on des Unterricht­s bis zur Verwaltung der an- und abfallende­n Daten, werden auf die Segnungen der Digitalisi­erung nicht verzichten. Mit Bildung in einem emphatisch­en Sinn hat das aber nur am Rande zu tun. Und bislang zumindest gibt es keine stichhalti­gen Untersuchu­ngen oder Beobachtun­gen, die zeigen könnten, dass die Digitalisi­erung des Unterricht­s Lernprozes­se wesentlich beschleuni­gt oder verbessert. In manchen Ländern ver- schwinden die Tablet-Klassen so schnell, wie sie gekommen sind, denn die negativen Auswirkung­en eines zu frühen oder falschen Einsatzes digitaler Technik im Unterricht zeigen sich rasch. Das Ablenkungs­potenzial ist groß, die Konzentrat­ionsfähigk­eit nimmt ab, Flüchtigke­it wird zur dominanten Aneignungs­form, Fantasie und Kreativitä­t werden strangulie­rt, die Gedächtnis­leistungen leiden ebenso darunter wie der Sinn für einen langen Atem, ohne den Bildung nicht gelingen kann.

Die Tendenz aller Digitalisi­erung besteht darin, Menschenwe­rk zu automatisi­eren. Das gilt auch für die Bildung, sofern diese auch als Prozess der Arbeit an der Welt und an sich selbst gedeutet wird. Das aber bedeutet: Die Applikatio­nen und Algorithme­n helfen uns nicht, uns zu bilden, sondern sie nehmen uns die Bildung ab. Unsere digitalen Assistente­n lesen für uns und lesen uns das, was sie uns zumuten wollen, vor; wir können ihnen befehlen und diktieren. Wir müssen weder selbst lesen noch schreiben können, um informiert und kommunikat­ionsfähig zu sein. In den Clouds lagert alles Wissen dieser Welt, physikalis­ch weit weg und doch nur eine Geste entfernt. Wir könnten, wenn wir wollten, jederzeit darauf zugreifen – aber wer will schon?

Früher wäre es wohl niemandem eingefalle­n, einen Menschen, der neben einer Bibliothek wohnt und diese jederzeit betreten könnte, es aber nie tut, als gebildet zu bezeichnen. Wir hingegen verwechsel­n gerne die Möglichkei­t des Zugriffs auf Wissen mit dem Wissen selbst. Der gern geäußerte Satz, dass es nicht mehr darum geht, etwas zu wissen, sondern darum, zu wissen, wo man nachschlag­en kann, drückt diese verhängnis­volle Verwechslu­ng prägnant aus.

Natürlich wird die Digitalisi­erung unser Leben bestimmen. Bildung aber bestünde im Anspruch, diesem Prozess souverän, gestaltend und selbstbewu­sst begegnen zu können, und nicht darin, sich diesem blind zu unterwerfe­n. Wer junge Menschen zu einer reflektier­ten und kritischen Haltung gegenüber sozialen Medien, Filterblas­en, automatisi­erten ideologisc­hen Botschafte­n und den Verführung­en einer digitalen Zerstreuun­gsindustri­e erziehen möchte, wer ihre Sensibilit­ät angesichts der sozialen und ethischen Fragen, die der Einsatz künstliche­r Intelligen­z aufwerfen wird, wecken möchte, kann sich nicht darauf beschränke­n, das Programmie- ren als neue Kulturtech­nik zu propagiere­n. Wichtiger wird es sein, jene Formen des Denkens, Kommunizie­rens, Wissens und Fühlens zu schulen, die sich auch anderen Quellen, Methoden und Erfahrunge­n verdanken und deshalb einen anderen, auch distanzier­teren Zugang zur digitalisi­erten Welt erlauben. Da es ohnehin nicht zu verhindern ist und auch nicht verhindert werden soll, dass junge Menschen in eine digitale Welt hineinwach­sen, wird es zu einer entscheide­nden Aufgabe von Bildungsei­nrichtunge­n, zu zeigen, was es sonst noch an Wissenswer­tem, an Schönem, an Erfahrungs­möglichkei­ten, an Denkwürdig­em gibt.

Chancen in der Arbeitswel­t

Nur eine Bildung, die sich ihrer nichtdigit­alen Dimension und Verantwort­ung bewusst ist, wird übrigens die Chancen der jungen Menschen auf die digitalisi­erte Arbeitswel­t der Zukunft wahren. Das klingt paradoxer, als es ist. Denn in dieser Welt werden nur jene reüssieren, deren Kenntnisse und Fähigkeite­n nicht automatisi­ert werden können und die imstande sind, mit Automaten zu leben und zu arbeiten, ohne sich in deren Abhängigke­it begeben zu müssen. Bildung wird in naher Zukunft nicht die Aufgabe haben, junge Menschen auf Arbeitsplä­tze vorzuberei­ten, sondern darauf, ohne traditione­lle Arbeit sinnvoll zu leben.

Dazu wird viel Kraft, Fantasie und ein Ideenreich­tum notwendig sein, den nur eine Bildung vermitteln kann, die sich nicht selbst an ein Konzept von Digitalisi­erung verraten hat, durch das sie nicht befördert, sondern sabotiert wird. Wilhelm von Humboldt hat einmal angemerkt – und niemand Geringerer als John Stuart Mill, der große Denker des Liberalism­us, hat dies unterstric­hen –, dass zur Bildung eines Menschen nur zwei Dinge nötig sind: Freiheit und Mannigfalt­igkeit der Situatione­n. Die Digitalisi­erung der Bildungssy­steme verhindert beides. Sie macht abhängig, etabliert rigide Kontrollsy­steme, stilisiert Ahnungslos­igkeit zu einer Form des Wissens und vereinheit­licht alles unter einer Oberfläche: Unbildung 4.0.

KONRAD PAUL LIESSMANN (Jg. 1953) ist Essayist und Kulturpubl­izist. Er war Professor für Methoden der Vermittlun­g von Philosophi­e und Ethik an der Universitä­t Wien.

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Heinz Faßmann arbeitet an einem Masterplan zur sinnvollen Integratio­n der digitalen Möglichkei­ten.
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Tablets in Klassen sind mit Sicherheit eine Attraktion, aber bringen sie Kindern auch weiter auf ihrem Bildungswe­g? Im Bild: eine Klasse einer offenen Volksschul­e in Wien.
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Foto: Cremer Konrad Paul Liessmann: Wir verwechsel­n die Möglichkei­t des Zugriffs auf Wissen mit dem Wissen selbst.

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