Faßmann: Lehrpläne entrümpeln für neue digitale Inhalte
Bildungsminister im Interview: Nur Tablets für alle Schüler ist zu wenig
– Für die Schulkinder im Osten geht es schon heute wieder los: In Wien, Niederösterreich und dem Burgenland startet das neue Schuljahr, die anderen sechs Bundesländer folgen in einer Woche. Dabei gibt es für alle Schülerinnen und Schüler eine Premiere: Erstmals wird in allen Schulstufen das Fach Digitale Grundbildung vermittelt. Das ist nur ein Baustein eines „Masterplans“, an dem der für Bildung, Wissenschaft und Forschung zuständige, parteifreie Minister Heinz Faßmann arbeitet.
Im STANDARD- Interview erklärt er, dass es nicht ausreiche, jedem Kind ein Tablet zu geben und zu hoffen, dass damit bessere Bildung ermöglicht werde: „Für mich ist die Frage ‚Wie setze ich das Digitale ein?‘ vorrangig, also die Software, und das meine ich umfassend, auch Lehrpläne sind Teile der Software.“Man sollte schon wissen, wohin man wolle, nicht nur möglichst schnell dort sein: „Hardware ohne gute Lernsoftware ist nichts.“
Sein Ressort habe bereits eine Lehrplanreform initiiert, sagt der Bildungsminister und betont, dass das eine tiefgreifende Änderung bedeuten wird: „Wir müssen wirklich kritisch schauen, ob die Lehrinhalte, die in manchen Lehrplänen stehen, noch notwendig sind, gerade vor dem Hintergrund, dass man das Digitale für das Faktenwissen ganz wunderbar einsetzen kann. Wir müssen Lehrpläne, die teilweise 18 Jahre alt sind, entlasten, um Platz zu machen für digital relevante Inhalte.“
Die Frage der Ausstattung der Schulen für die Arbeit mit digitalen Geräten und Materialien sei eine andere Herausforderung. Derzeit verfügt nur rund die Hälfte der Neuen Mittelschulen, AHS und BMHS über WLAN, schnelles Internet hat nur jede zehnte NMS, jede dritte AHS und etwas mehr als ein Drittel der berufsbildenden Schulen. Ohne diese Infrastruktur können die Schulen weder schon jetzt digital verfügbare Schulbücher noch irgendwelche Geräte nutzen. Der nötige Ausbau der Breitbandleitungen sei „keine Sache von heute auf morgen, sondern eines mehrjährigen Programms“, plädiert Faßmann für realistische Zeithorizonte. Aber: Es gebe in der Regierung die „Bereitschaft, alle Schulen digital zu erschließen“.
Lehrer als Wissensmoderator
Die dritte wichtige Komponente der Digitalisierung der Schule sei die Aus- und Fortbildung der Lehrerinnen und Lehrer, deren Rolle sich verändern werde. Sie seien dann „nicht mehr die einzigen Wissensbringer in der Klasse, sondern Moderatoren eines Wissenserwerbs auch über das Netz“.
Übrigens: Nicht für alle schulpflichtigen Kinder geht es jetzt wieder in die Schule. Immer mehr Eltern wollen ihren Nachwuchs zu Hause unterrichten – oder gar nicht. Ihre Zahl stieg in den vergangenen fünf Jahren um 500 auf 2320 an. (red)
„ Es hat keinen Sinn, in der Schule künstlich einen digitalfreien Raum zu schaffen. “
Im Regierungsprogramm von ÖVP und FPÖ kommt das Wort Digitalisierung gleich 92-mal vor, mehr als doppelt so oft wie die das Tagesgeschäft dominierende Migration mit 42 Nennungen. Der als vierte industrielle Revolution bezeichnete Umbruch war auch eines der Themen, die eine von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) angeführte Delegation unlängst nach Singapur und Hongkong führten. Mit dabei Heinz Faßmann. Der für Bildung, Wissenschaft und Forschung zuständige Minister erklärt, warum ein Tablet für jedes Schulkind noch keine digitale Bildung ausmacht.
STANDARD: Für rund 100.000 Kinder beginnt in diesem Herbst die Schule. Welche Erinnerung haben Sie an Ihren eigenen Schulbeginn?
Faßmann: Mein Schulbeginn liegt leider schon 56 Jahre zurück (lacht), aber ich erinnere mich, dass ich eine wahnsinnig nette Volksschullehrerin hatte. Ich kam ja damals aus Deutschland, mein Vater ist sehr früh verstorben, und diese Lehrerin war für mich eine Stütze, weil sie mich auch seelisch sehr hochgehalten hat.
STANDARD: Ein Fach, das es damals noch nicht gab, ist ab diesem Schuljahr neu etabliert: digitale Grundbildung. Was soll dieses Fach den Kindern vermitteln?
Faßmann: Das Schulsystem sollte die Möglichkeiten eines sehr viel individualisierteren und stärker selbstorganisierten Lernens durch den Einsatz von Lernsoftware nützen. Wenn Kinder unterschiedlich schnell sind beim Vokabellernen oder im Verstehen, was eine mathematische Funktion ist, dann soll ihnen durch eine gute Software ermöglicht werden, gleichsam in das nächste Level aufzusteigen. Im Rahmen der digitalen Grundbildung sollte auch verstanden werden, was digitales Denken eigentlich bedeutet, das Zerlegen komplexer Abläufe in einzelne Schritte, die dann möglicherweise zu programmieren sind. Das ist eine spezifische Art zu denken, und das muss man einmal verstanden haben. Kinder und Lehrer sollen Konsumenten des Digitalen sein, aber auch hinter die Kulisse schauen und selbst Produzenten digitaler Inhalte werden.
STANDARD: Wie wird die Digitalisierung die Rolle der Lehrerinnen und Lehrer verändern? Für viele ist sie auch angstbesetzt, da Kinder heute oft viel selbstverständlicher mit digitalen Geräten umgehen.
Faßmann: Ja, wir müssen einen Masterplan erstellen, wie wir den digitalen Einstieg in das österreichische Schulsystem bewerkstelligen können. Da sind neben der Hard- und Software die Lehrenden eine wesentliche Komponente, weil sie sozusagen die Pforte öffnen. Da brauchen wir sicherlich mehr Aus- und Fortbildung zum Thema Digitalisierung, weil sich die Rolle verändert. Lehrer sind dann nicht mehr die einzigen Wissensbringer in der Klasse, sondern Moderatoren eines Wissenserwerbs auch über das Netz.
STANDARD:
Sind Sie dafür, dass jedes Kind, wie es ja auch schon der Vorgängerregierung für die fünfte und neunte Schulstufe vorschwebte, ein eigenes Tablet bekommt? Oft läuft die Diskussion ja darauf hinaus.
Faßmann: Für mich ist die Frage „Wie setze ich das Digitale ein?“vorrangig, also die Software, und das meine ich umfassend, auch Lehrpläne sind Teile der Software. Ich muss ja wissen, wo ich hinwill, und nicht nur, dass ich schneller irgendwo bin, um mit Qualtinger zu sprechen. Aber es ist klar, dass am Ende des Weges die Kinder und auch die Lehrerinnen und Lehrer im Besitz digitaler Endgeräte und die Schulen gut ausgestattet mit Breitbandanschluss und WLAN sind.
STANDARD: Soll der Staat die digitalen Geräte zur Verfügung stellen, oder sind Sie für das System „Bring your own device“, also dass die Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Handys oder Tablets mitbringen sollen, was aber die Gefahr einer sozialen digitalen Kluft birgt, weil wohl nicht alle Eltern Tablets für ihre Kinder kaufen können?
Faßmann: Unter den derzeitigen gesetzlichen Rahmenbedingungen ist die Frage relativ klar zu regeln: Der Schulerhalter ist höchstwahrscheinlich dafür zuständig, es sei denn, man betrachtet ein Endgerät wie ein Schulbuch, dann wäre es der Familienlastenausgleichsfonds. Auf alle Fälle in irgendeiner Form die öffentliche Hand. Aber natürlich ist das auch eine Frage der Ressourcen. Dass man die zu einem hohen Prozentsatz vorhandenen eigenen Geräte der Schüler nutzt, kann ein Zwischenschritt sein. Es bringt nichts, zu sagen, lasst eure digitalen Geräte draußen. Man muss sie sinnvoll in den Unterricht integrieren und auch ethische Grenzen des Gebrauchs der Geräte vermitteln.
Standard: Laut Zahlen aus Ihrem Ministerium verfügen derzeit nur plus/minus 50 Prozent der NMS, AHS und BMHS über WLAN, schnelles Internet haben nur jede zehnte NMS, jede dritte AHS und etwas mehr als ein Drittel der BMHS. Der Ausbau braucht Zeit und Geld. Bis wann können Sie jeder Schule WLAN zusagen?
Faßmann: Wir sind auf dem halben Weg, die Hälfte der Schulen ist gut ausgestattet. Wir brauchen klarerweise auch die linienhafte Infrastruktur, sprich Breitbandleitungen, um das Potenzial des Digitalen sinnvoll einsetzen zu können. Das ist keine Sache von heute auf morgen, sondern eines mehrjährigen Ausbauprogramms. Ich habe den Eindruck, dass Infrastrukturminister Norbert Hofer eine gewisse Technikaffinität besitzt und den Ausbau forcieren möchte, und Ministerin Margarete Schramböck ist überhaupt ein Fan des Digitalen, sie hat die Digitalisierung ja sogar im Namen ihres Ressorts. Es gibt in der Regierung, glaube ich, eine Bereitschaft, alle Schulen digital zu erschließen.
Standard: Wenn man mit Tablets in der Schule arbeitet, ist das natürlich ein Einfallstor für die Hardund Softwareanbieter. Wie wollen Sie verhindern, dass sich die finanzstarken großen Marken ihre künftigen Kunden heranziehen? Faßmann: Da gibt es Ausschreibungsverfahren und Compliance- Regeln. Man wird das nicht gegen, man muss das mit den großen marktbeherrschenden Firmen machen. Vielleicht gibt es ja auch besondere Konditionen. Der Wettbewerb kann auch hilfreich sein.
Standard: Die OECD hat 2015 erstmals untersucht, ob die Digitalisierung des Unterrichts überhaupt Erfolge zeitigt. Der Befund: PCs und Internet haben keine positive Auswirkung auf die Performance von 15- und 16-Jährigen in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen. Im Gegenteil: In jenen Ländern, in denen zwischen 2003 und 2012 überdurchschnittlich stark in schulische Hardware investiert wurde, haben sich die Lernerfolge in Mathematik im selben Zeitraum tendenziell verschlechtert. Und in Ländern, in denen Computer im Unterricht nicht flächendeckend eingesetzt werden, konnten Schüler ihre Lesefähigkeit im Schnitt rascher verbessern als in Ländern, in denen Laptops zur Normalausstattung zählen. Was folgern Sie daraus? Faßmann: Das ist ein seriöser Befund, der sich mit meiner Alltagserfahrung deckt. Wer glaubt: „Kauft Hardware, und die Welt wird eine bessere werden“, irrt mit Sicherheit. Man muss das einbetten in ein pädagogisches Konzept und die Lehrenden motivieren, das sinnvoll, aber dosiert einzusetzen. Das zeigt die Studie ja auch: Es gibt einen Peak, wenn man zu viel konsumiert, hat man eher nega- tive Effekte. Hardware ohne gute Lernsoftware ist nichts.
Standard: Sind unsere Lehrpläne für die Möglichkeiten, die die Digitalisierung verspricht, passend, oder müsste man da auch einmal sehr grundsätzlich entrümpeln?
Faßmann: Natürlich brauchen wir eine Lehrplanreform. Wir haben das auch schon initiiert, weil so etwas dauert. Das ist eine Sache der nächsten Jahre. Wir müssen wirklich kritisch schauen, ob die Lehrinhalte, die in manchen Lehrplänen stehen, noch notwendig sind, gerade vor dem Hintergrund, dass man das Digitale für das Faktenwissen ganz wunderbar einsetzen kann. Wir müssen Lehrpläne, die teils 18 Jahre alt sind, entlasten, um Platz zu machen für digital relevante Inhalte.
Standard: Im Koalitionsprogramm steht „Prüfung einer Digitalisierung der Schulbuchaktion“. Soll es künftig nur noch digitale Schulbücher geben?
Faßmann: Schon jetzt wandern die meisten Schulbücher als E-Books in ein Repositorium und sind digital verfügbar. Interessanterweise sind die Abrufzahlen relativ gering. Unsere E-Books werden zu wenig genützt. Das hängt sicher mit der Ausbildung der Lehrenden zusammen, aber auch mit der Tatsache, dass eben fünfzig Prozent der Schulen keinen guten Internetanschluss haben. Aber natürlich ist es eine vollkommen verständliche Vision, zu sagen, dass irgendwann das Gedruckte durch das digital verankerte Medium ersetzt werden wird.
Standard:
Quer zur Digitaleuphorie setzen just im Silicon Valley, dem Mekka der Digitalpioniere, viele Eltern auf eine computerfreie Schule für ihre Kinder. In der Waldorf School of the Peninsula gibt es vor der achten Schulstufe keine technischen Medien im Unterricht. Die „New York Times“zitierte einen der Väter so: „The idea that an app on an iPad can better teach my kids to read or do arithmetic, that’s ridiculous.“Die Idee, eine App könnte seinen Kindern besser Lesen oder Rechnen beibringen, sei lächerlich. Lakonische Anmerkung der „NYT“: „Mr. Eagle knows a bit about technology.“Mister Eagle ist ein Google-Manager, der Computerwissenschaften studiert hat. Wie interpretieren Sie dieses Phänomen?
Faßmann: Ich gehöre auch zu jenen, die sagen: Der Einsatz technologischer, vor allem digitaler Instrumente löst nicht unsere Herausforderung im Bildungssystem. Ich sage aber auch: Es hat keinen Sinn, in der Schule künstlich einen digitalfreien Raum zu schaffen, wenn rundherum die Geräte das Leben der Kinder mitbestimmen. Deswegen führt eine digitale Apartheid zu wenig. Weder das eine noch das andere – Glorifizieren oder Verdammen – ist in seiner Radikalität richtig.
Standard: Wie halten Sie es denn persönlich mit Tablet und Co?
Faßmann: Ich lese Bücher und Zeitungen auf Papier, weil meine Augen da langsamer müde werden als vom Bildschirm. Und meinen Laptop liebe ich über alles, denn da habe ich mein Leben drauf, mein Großhirn, alle Aufsätze, alle Bücher, alles ist da drauf (lacht).
HEINZ FASSMANN (63), Professor für Angewandte Geografie, Raumforschung, Raumordnung und zuletzt Vizerektor der Uni Wien, war seit 2010 integrationspolitischer Berater von Sebastian Kurz und wurde 2017 parteifreier Minister für Bildung, Wissenschaft und Forschung.
„ Wer glaubt: ‚Kauft Hardware, und die Welt wird eine bessere werden‘, irrt mit Sicherheit. “
Die Frage, wie digital das Bildungssystem der Zukunft sein soll, lässt sich klar beantworten: so wenig wie möglich. Und dies einfach deshalb, weil Bildung die Digitalisierung weder in einem besonderen Maße erfordert noch kategorisch ausschließt. Solange Bildung mit dem Beherrschen grundlegender Kulturtechniken, der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit, dem Erwerb von Wissen, dem Verständnis von Zusammenhängen, den Kenntnissen der bedeutenden Dokumente der Künste und Literaturen, der Formung der eigenen Persönlichkeit in Hinblick auf Mündigkeit und Autonomie, der Schulung moralischer Sensibilität zu tun hat, ist für diesen Prozess die Frage der Digitalisierung einfach sekundär.
Neugier und die Lust am Wissen, die Freude am Lesen, das Verständnis für die Methoden und Ergebnisse der Wissenschaften, die Beherrschung von Fremdsprachen, der Sinn für historische Zusammenhänge, die Schulung des ästhetischen Geschmacks, die Bildung einer politischen und moralischen Haltung gegenüber der Welt – all das kann erworben, geübt, verfeinert und weiterentwickelt werden ganz ohne Digitalisierung.
Das heißt nicht, dass man auf digitale Techniken nicht auch zurückgreifen kann, manches mag dadurch rascher und leichter gehen, und die bürokratischen Prozesse in Bildungssystemen, von der Organisation des Unterrichts bis zur Verwaltung der an- und abfallenden Daten, werden auf die Segnungen der Digitalisierung nicht verzichten. Mit Bildung in einem emphatischen Sinn hat das aber nur am Rande zu tun. Und bislang zumindest gibt es keine stichhaltigen Untersuchungen oder Beobachtungen, die zeigen könnten, dass die Digitalisierung des Unterrichts Lernprozesse wesentlich beschleunigt oder verbessert. In manchen Ländern ver- schwinden die Tablet-Klassen so schnell, wie sie gekommen sind, denn die negativen Auswirkungen eines zu frühen oder falschen Einsatzes digitaler Technik im Unterricht zeigen sich rasch. Das Ablenkungspotenzial ist groß, die Konzentrationsfähigkeit nimmt ab, Flüchtigkeit wird zur dominanten Aneignungsform, Fantasie und Kreativität werden stranguliert, die Gedächtnisleistungen leiden ebenso darunter wie der Sinn für einen langen Atem, ohne den Bildung nicht gelingen kann.
Die Tendenz aller Digitalisierung besteht darin, Menschenwerk zu automatisieren. Das gilt auch für die Bildung, sofern diese auch als Prozess der Arbeit an der Welt und an sich selbst gedeutet wird. Das aber bedeutet: Die Applikationen und Algorithmen helfen uns nicht, uns zu bilden, sondern sie nehmen uns die Bildung ab. Unsere digitalen Assistenten lesen für uns und lesen uns das, was sie uns zumuten wollen, vor; wir können ihnen befehlen und diktieren. Wir müssen weder selbst lesen noch schreiben können, um informiert und kommunikationsfähig zu sein. In den Clouds lagert alles Wissen dieser Welt, physikalisch weit weg und doch nur eine Geste entfernt. Wir könnten, wenn wir wollten, jederzeit darauf zugreifen – aber wer will schon?
Früher wäre es wohl niemandem eingefallen, einen Menschen, der neben einer Bibliothek wohnt und diese jederzeit betreten könnte, es aber nie tut, als gebildet zu bezeichnen. Wir hingegen verwechseln gerne die Möglichkeit des Zugriffs auf Wissen mit dem Wissen selbst. Der gern geäußerte Satz, dass es nicht mehr darum geht, etwas zu wissen, sondern darum, zu wissen, wo man nachschlagen kann, drückt diese verhängnisvolle Verwechslung prägnant aus.
Natürlich wird die Digitalisierung unser Leben bestimmen. Bildung aber bestünde im Anspruch, diesem Prozess souverän, gestaltend und selbstbewusst begegnen zu können, und nicht darin, sich diesem blind zu unterwerfen. Wer junge Menschen zu einer reflektierten und kritischen Haltung gegenüber sozialen Medien, Filterblasen, automatisierten ideologischen Botschaften und den Verführungen einer digitalen Zerstreuungsindustrie erziehen möchte, wer ihre Sensibilität angesichts der sozialen und ethischen Fragen, die der Einsatz künstlicher Intelligenz aufwerfen wird, wecken möchte, kann sich nicht darauf beschränken, das Programmie- ren als neue Kulturtechnik zu propagieren. Wichtiger wird es sein, jene Formen des Denkens, Kommunizierens, Wissens und Fühlens zu schulen, die sich auch anderen Quellen, Methoden und Erfahrungen verdanken und deshalb einen anderen, auch distanzierteren Zugang zur digitalisierten Welt erlauben. Da es ohnehin nicht zu verhindern ist und auch nicht verhindert werden soll, dass junge Menschen in eine digitale Welt hineinwachsen, wird es zu einer entscheidenden Aufgabe von Bildungseinrichtungen, zu zeigen, was es sonst noch an Wissenswertem, an Schönem, an Erfahrungsmöglichkeiten, an Denkwürdigem gibt.
Chancen in der Arbeitswelt
Nur eine Bildung, die sich ihrer nichtdigitalen Dimension und Verantwortung bewusst ist, wird übrigens die Chancen der jungen Menschen auf die digitalisierte Arbeitswelt der Zukunft wahren. Das klingt paradoxer, als es ist. Denn in dieser Welt werden nur jene reüssieren, deren Kenntnisse und Fähigkeiten nicht automatisiert werden können und die imstande sind, mit Automaten zu leben und zu arbeiten, ohne sich in deren Abhängigkeit begeben zu müssen. Bildung wird in naher Zukunft nicht die Aufgabe haben, junge Menschen auf Arbeitsplätze vorzubereiten, sondern darauf, ohne traditionelle Arbeit sinnvoll zu leben.
Dazu wird viel Kraft, Fantasie und ein Ideenreichtum notwendig sein, den nur eine Bildung vermitteln kann, die sich nicht selbst an ein Konzept von Digitalisierung verraten hat, durch das sie nicht befördert, sondern sabotiert wird. Wilhelm von Humboldt hat einmal angemerkt – und niemand Geringerer als John Stuart Mill, der große Denker des Liberalismus, hat dies unterstrichen –, dass zur Bildung eines Menschen nur zwei Dinge nötig sind: Freiheit und Mannigfaltigkeit der Situationen. Die Digitalisierung der Bildungssysteme verhindert beides. Sie macht abhängig, etabliert rigide Kontrollsysteme, stilisiert Ahnungslosigkeit zu einer Form des Wissens und vereinheitlicht alles unter einer Oberfläche: Unbildung 4.0.
KONRAD PAUL LIESSMANN (Jg. 1953) ist Essayist und Kulturpublizist. Er war Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien.