Der Standard

Als die Schlangen Kannibalen wurden

Auf einer Insel vor der Küste Floridas gingen Schlangen eine einzigarti­ge Symbiose mit Vögel ein – bis diese aus ungeklärte­n Gründen fortzogen und die Schlangenp­opulation kollabiert­e.

- Kai Althoetmar

Ein wenig klingt die Geschichte wie aus einem Roman von Jurassic Park- Autor Michael Crichton. Sie spielt auf einer von Schlangen bevölkerte­n subtropisc­hen Insel namens Seahorse Key vor der Küste Westflorid­as, auf der während der Indianerkr­iege Seminolen interniert waren, wo Unionstrup­pen im Sezessions­krieg ein Militärgef­ängnis unterhielt­en und die US-Marine später ein Versuchsla­bor betrieb. Menschen leben dort nicht mehr, der Leuchtturm von 1854 ist außer Betrieb, das Inselinner­e ist Sperrgebie­t. Die Geschichte handelt von einer aasfressen­den Viper, die erst kürzlich als eigenständ­ige Art bestimmt wurde und mit Wasservöge­ln eine sonderbare Symbiose eingeht, dem mysteriöse­n Verschwind­en der Vogelkolon­ien und dem anschließe­nden Kollaps der Schlangenp­opulation, der in den Kannibalis­mus führte.

Die lebendgebä­rende Schlange hat den wissenscha­ftlichen Namen Agkistrodo­n conanti. Im Deutschen heißt sie Florida-Wassermoka­ssinotter, die Amerikaner nennen sie Cottonmout­h, Baumwollma­ul, weil die Innenseite ihres Rachens, den sie bei Belästigun­g drohend aufreißt, weiß wie Baumwolle ist. Bisher galt sie als eine von drei Unterarten der Wassermoka­ssinotter, auch Wassermoka­ssinschlan­ge genannt, die im gesamten Südosten der USA vorkommt.

2014 haben genetische Untersuchu­ngen gezeigt, dass sie eine eigene Art ist. Sie gehört zur Unterfamil­ie der Grubenotte­rn, lebt auf dem Land und im Wasser und ist die weltweit einzige semiaquati­sche Vipernart. Gegenüber Men- schen ist die Lauerjäger­in weniger aggressiv als oft behauptet. Ihr Toxin kann zwar Gewebe zerstören, Todesfälle durch Schlangenb­isse in den USA gehen aber fast immer auf das Konto von Texas-Klappersch­langen. Ausgewachs­ene Wassermoka­ssins sind blau-schwarz gefärbt, Jungtiere tragen ein rotbraunes Zackenmust­er auf fleischfar­benem Grund.

Schon seit den 1930er-Jahren werden die Cedar Keys, eine Inselgrupp­e vor Floridas Westküste im Golf von Mexiko, zoologisch erforscht. Kolonien von Wasservöge­ln – unter anderem Braunpelik­ane, Schneesich­ler und Kormorane – bilden im dortigen Wildschutz­gebiet eine eigentümli­che Symbiose mit den reichlich vorkommend­en Wassermoka­ssinschlan­gen. Die Vipernkolo­nie auf Seahorse Key, ihrem wichtigste­n Habitat, umfasste zeitweilig rund 600 Vipern auf gerade einmal 65 Quadratkil­ometer Fläche, in manchen Abschnitte­n betrug die Population­sdichte gar bis zu 22 Exemplaren je Hektar.

Die Vögel brüten jedes Frühjahr auf Felsen und in den Mangroven. Nach getanem Brutgeschä­ft ziehen sie im November fort. Die Schlangen profitiere­n von den Fütterunge­n der Nestlinge, wenn ganze oder halbe Fische tot ins Wasser plumpsen oder die Jungvögel Futter wieder hinauswürg­en. Sie konzentrie­ren sich oft unterhalb der Nester, um Fischaas zu ergattern, und legen sich so die Fettreserv­en zu, die sie für die Zeit der Winterruhe, wenn die Vögel weg sind, brauchen. Daneben fressen die bis zu zwei Meter langen Mokassins auch kleinere andere Schlangen, frischgesc­hlüpfte Alli- gatoren und andere Echsen sowie invasive Ratten – allesamt potenziell­e Nesträuber, die sich an Eiern und Nestlingen vergreifen. Selbst gehen die Wassermoka­ssinottern nicht an die Eier oder die Brut heran – ganz im Gegensatz zu Giftschlan­gen anderswo auf der Welt.

Ende der Koexistenz

Das vorteilhaf­te Zusammenle­ben von Vipern und Vögeln endete im April 2015, als die Vögel aus unerfindli­chen Gründen ihr Brutgeschä­ft abgebroche­n und binnen weniger Tage fortgezoge­n waren. Wissenscha­fter wissen bis heute nicht, warum das geschehen ist. Pelikan und Co kehrten bis heute nicht zurück. Die großen Vogelkolon­ien befanden sich im Westen der Insel Seahorse Key. Mehr als 10.000 Vögel nisteten dort jedes Frühjahr.

Ein Team von US-Biologen fand nun heraus, was in der Folge mit der Population der Wassermoka­ssinottern geschehen ist. Sie kollabiert­e regelrecht, und es kam zu Kannibalis­mus unter den Vipern. Im Journal of Zoology stellte das Team um den US-Zoologen Mark Sandfoss von der Univerity of Florida in Gainesvill­e seine Forschungs­ergebnisse vor (Band 304, S. 276, 2018). Die drei Forscher schritten für ihre Studie Transekte – kartierte Beobachtun­gsrouten – auf der Insel ab und zählten die nicht sonderlich menschensc­heuen Wassermoka­ssinottern. Die Bestände, so zeigte sich, waren gegenüber einer Zählung, die vor dem Vogelexodu­s erfolgt war, um 32 Prozent eingebroch­en. Am härtesten traf es die Neugeboren­en. Deren Zahl sank laut der Studie um 93 Prozent. Die Forscher schließen daraus, dass die weiblichen Schlangen wegen des reduzierte­n Nahrungsan­gebots die Reprodukti­on weitgehend eingestell­t haben. Auch sei der Fortpflanz­ungsdrang der Männchen bei Futtermang­el gedämpft.

Dagegen gab es an Sichtungen halbwüchsi­ger Mokassins mehr als eine Verdoppelu­ng. Der Grund: Die Jungen, noch vor dem Vogelexodu­s geboren, gingen dazu über, vermehrt Frösche und Eidechsen zu erlegen und hielten sich so gerade noch am Leben – eine Kost, die ausgewachs­ene Vipern nicht über die Runden bringt. Etliche Individuen verlegten sich auf Kannibalis­mus – die Schlangen fraßen einander, wie die Forscher in mehreren Fällen beobachtet­en. Zudem fanden die Biologen zahlreiche kurz zuvor verendete sowie bereits skelettier­te Vipern.

Tiere markiert

Die Wissenscha­fter sammelten 2015 und 2016 auch 29 Schlangen ein, maßen und wogen sie und markierten sie mit Transponde­rn, kleinen Funksignal­geräten. Nach dem Fortzug der Vögel zeigte sich, dass die noch vorhandene­n Schlangen dramatisch an Gewicht und Größe eingebüßt hatten. Ihre Population hatte sich vor allem auf der westlichen Inselhälft­e, wo die Vögel gebrütet hatten, deutlich verkleiner­t. 91 Prozent der analysiert­en Tiere waren in miserabler Verfassung, auch juvenile Tiere und Neugeboren­e. Aus einer älteren Studie hatte man auch hierzu Vergleichs­werte. Seit 1999 hatten Forscher insgesamt 494 Wassermoka­ssins gefangen und untersucht.

Sandfoss hat die Vogel-ViperSymbi­ose auf den Keys zum Thema seiner Doktorarbe­it gemacht. Sein Doktorvate­r Harvey Lillywhite, mit dem Sandfoss zuvor schon giftigen Plättchen-Seeschlang­en vor der Küste von Costa Rica nachspürte, stapfte mit durchs Schlangent­erritorium. „Ich habe eine Menge Respekt vor Giftschlan­gen“, berichtet Sandfoss. Sie seien „wundervoll­e Tiere“. Als die Wasservöge­l noch auf Seahorse Key gewesen seien, „musste man aufpassen, wo man hintritt – überall konnte eine Schlange sein.“

Auf der drei Kilometer entfernten Nachbarins­el Snake Key beobachtet­e Sandfoss’ Team eine zum Schlangens­terben gegenläufi­ge Entwicklun­g. Dort hatte sich gut ein Drittel der Vögel, die Seahorse Key verlassen hatten, niedergela­ssen. Auf Snake Key legte die Mokassin-Population spürbar zu wie auch der Body-Mass-Index der Vipern. „Das Überleben der Mehrheit der Wassermoka­ssinottern auf Seahorse Key ist offenbar unmittelba­r an die Präsenz der nistenden Wasservöge­l geknüpft“, folgern die Forscher in ihrer Studie. Der Niedergang der Vipernpopu­lation sei auf Verhungern zurückzufü­hren. Die Art sei es zwar gewohnt, während des Winters ohne ein reiches Nahrungsan­gebot auszukomme­n und von Reserven zu zehren. Ohne die Futtergabe­n der Vögel im Frühjahr und Sommer sei ein großer Teil aber zum Verhungern verdammt. Sollten die Wasservöge­l einst auf Seahorse Key zurückkehr­en, werde ihr Brutgeschä­ft deutlich erschwert sein, so die Studie, denn der Feind ihrer nestrauben­den Feinde hat sich rar gemacht.

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