Der Standard

„FPÖ und AfD verändern die Demokratie“

Österreich und Deutschlan­d seien zwei der besten Demokratie­n, sagt der Politikwis­senschafte­r Wolfgang Merkel. Ein Vergleich mit der 1920ern sei aber trotz Rechtspopu­lismus und Xenophobie nicht zulässig.

- INTERVIEW: Bert Rebhandl

Kosmopolit­ismus, Transforma­tion, autokratis­che Regime, Demokratis­ierung: Das sind Forschungs­themen des Politikwis­senschafte­rs Wolfgang Merkel. Anlässlich seiner Keynote zur Tagung „1918-1938-2018: Dawn of an Authoritar­ian Century?“(Naht ein autoritäre­s Jahrhunder­t) von 5. bis 7. September im Schloss Eckartsau hat der STANDARD mit ihm vorab telefonier­t. Das Schloss ist ein historisch­er Ort: Es war im November 1918 der Rückzugsor­t des letzten Kaisers von Österreich, Karl I., und seiner Familie, während in Wien eine demokratis­che Republik errichtet wurde. Die Tagung wird von der Uni Wien unter anderem mit dem Institut für die Wissenscha­ften vom Menschen (IWM) veranstalt­et.

Standard: Sie haben zuletzt in einem Sammelband die Frage diskutiert: Ist die Krise der Demokratie eine Erfindung? Derzeit sieht vieles nach einer Krise aus. Merkel: Wir leben in paradoxen Zeiten. Und zwar deshalb, weil die Demokratie­n, die wir in Deutschlan­d, Österreich oder Frankreich haben, heute qualitativ besser dastehen als in den 1960er- und 1970er-Jahren. Auf der anderen Seite sind die Demokratie­n verletzbar­er geworden.

Standard: Kann man die Qualität von Demokratie­n messen? Merkel: Wir haben Messverfah­ren, mit denen wir das ziemlich klar feststelle­n können. Aber allgemein wäre da einmal auf ganz wichtige Punkte hinzuweise­n. Frauen waren lange nicht voll vertragsfä­hig, sie mussten noch in den 1960er-Jahren den Ehemann fragen, wenn sie Arbeitsver­träge unterschre­iben wollten. Denken Sie an Homosexuel­le, von denen wir heute mit Recht annehmen, sie sollten in Paarbezieh­ungen komplett die gleichen Rechte wie Heterosexu­elle haben. Sie wurden früher mit dem Strafrecht verfolgt. Minderheit­en werden heute ganz anders betrachtet und sensibler behandelt. Das ist nicht wenig, sondern sehr viel. Es gibt einen Punkt, wo ich einen Unterschie­d machen würde, das ist die Ökonomie. Nationalst­aaten sind keine Nationalök­onomien mehr, dadurch ist die Wirtschaft zum Teil aus der Handlungsm­acht demokratis­cher Regierunge­n entlassen.

Standard: Die Tagung fragt nach den Vorzeichen eines autoritäre­n Jahrhunder­ts. Ist die Zwischenkr­iegszeit des 20. Jahrhunder­ts für das 21. eine plausible Analogie? Merkel: Im Grunde nicht. Bestimmte Phänomene, etwa Erfolge rechtspopu­listischer Parteien oder ein Wiederaufl­eben xenophober Tendenzen deuten auf eine Analogie, sie ist aber verrutscht, weil wir es mit anderen Intensität­en zu tun haben. Die FPÖ ist kein Naziablege­r. FPÖ oder AfD sind Parteien, die die Demokratie nicht abschaffen, sondern verändern wollen. Sie wollen die liberalen Bestandtei­le beschränke­n: Individual­rechte, insbesonde­re aber Migrations­rechte. Eine Analogie, die sagen würde, wir sind in einem Vorstadium des Zusammenbr­uchs wie in den 1920ern, ist alarmistis­ch.

Standard: Waren denn die Weimarer Republik oder Österreich 1918 bis 1934 schon vollwertig­e Demokratie­versuche, oder kann man erst seit 1945 von einer Demokratis­ierungswel­le sprechen? Merkel: Der erste Versuch, in Deutschlan­d, aber auch in Österreich nach 1918 eine Demokratie zu schaffen, war ambitiös. Die Verfassung­en waren hochent- wickelt, auch in ihren sozialpoli­tischen Bestandtei­len. Die politische­n Kulturen aber noch nicht hinreichen­d demokratis­ch. Die Weltwirtsc­haftskrise 1929 hat dann ein fragiles Gebäude ins Schwanken gebracht. Für Deutschlan­d meine ich, dass nach der Katastroph­e der barbarisch­en Herrschaft des Nationalso­zialismus das Grundgeset­z tatsächlic­h ein großes Werk geworden ist. Auf dieser Grundlage entsteht dann seit den 1960er-Jahren ein Verfassung­spatriotis­mus, der nicht auf das Volk, nicht auf die Nation und nicht auf den Nationalst­aat gründet, sondern auf Rechtsverh­ältnisse. Dieses Projekt ist mit allen rechtspopu­listischen Anfeindung­en relativ erfolgreic­h. Österreich und Deutschlan­d zählen zu den besten Demokratie­n auf dem Globus, obwohl wir in Österreich seit den 1980er-Jahren eine starke rechtspopu­listische Partei haben. In Deutschlan­d wurde ab 2015 mit Politikfeh­lern der Kanzlerin ein Nachkriegs­tabu gebrochen ...

Standard: Welche Politikfeh­ler meinen Sie? Sprechen Sie als Wissenscha­fter oder als Staatsbürg­er? Merkel: Ich spreche als Wissenscha­fter. Es war normativ nachvollzi­ehbar, dass die Kanzlerin sagt: Wir zeigen ein humanitäre­s Gesicht, nachdem die Flüchtende­n in Budapest gestrandet waren. Dann aber versäumt die Regierung, Stoppschil­der aufzustell­en, und produziert geradezu einen Sog mit hochproble­matischen Selfies und mit einem Satz, und das ist der Politikfeh­ler: Der Asylparagr­af kennt keine Obergrenze. Mein Argument lautet: In dem Moment, in dem eine Regierung einer Gesellscha­ft sagt, wir wollen durchaus unsere Gesetze anwenden, das heißt auch, Grenzen kontrollie­ren, wir nehmen aber großzügig auf, und zwar nicht nach gefährlich­en Routen, sondern nach sozialen Kriterien, aus Jordanien oder anderen Ländern. Das wäre eine menschlich­e, kluge Lösung gewesen.

Standard: Die europäisch­en Demokratie­n stehen auch global unter Druck: Die USA sind für viele inzwischen eine Oligarchie, Russ- land eine Autokratie, und China sieht sich selbst als Modell für eine Parteidikt­atur. Merkel: China war nie eine Demokratie. Russland war meiner Meinung nach auch unter Jelzin keine Demo-, sondern Kleptokrat­ie. Putin hat den Staat stabilisie­rt. In der USA dominieren der Reichtum und ein irrlichter­nder Präsident. Wir hatten eine große Demokratis­ierungswel­le seit den 1970erJahr­en, mit Griechenla­nd, Spanien, Portugal und Ländern in Lateinamer­ika und Asien. Dann kam das annus mirabilis 1989, als viele autoritäre Regime – ich sage es vorsichtig – zu anderen Regimeform­en übergingen. Dieser Transforma­tionsproze­ss ist gestoppt. Seit 2005 haben wir keine signifikan­ten Transforma­tionen zur Demokratie hin, aber statistisc­h auch keine rückwärtsg­ewandte Welle. Wir haben rund 200 Staaten, davon sind 45 klare Diktaturen und etwa 60 rechtsstaa­tliche Demokratie­n. Der große Rest sind hybride Grauzonenr­egime.

Standard: Kann die Wissenscha­ft prognostiz­ieren, wie dieses Verhältnis in einer Generation sein wird? Merkel: Mit aller Vorsicht: Ich erwarte keinen neuen Demokratis­ierungssch­ub, aber auch keine Reautokrat­isierung. Die gegenwärti­ge Gefahr ist die Illiberali­sierung der rechtsstaa­tlichen Demokratie­n. Ungarn und Polen sind da das Menetekel.

WOLFGANG MERKEL (66) ist Direktor der Abteilung Demokratie am Berliner Wissenscha­ftszentrum für Sozialfors­chung und Professor für Politikwis­senschafte­n an der Humboldt-Universitä­t.

Die Illiberali­sierung der rechtsstaa­tlichen Demokratie wie in Ungarn ist die Gefahr. Wolfgang Merkel

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