Der Standard

Erdogan statt Jihad

Güngör sieht weniger Radikalisi­erung an Schulen

- Lisa Nimmervoll

Wien – Gibt es in den österreich­ischen Schulen einen „Kulturkamp­f“, ausgelöst durch muslimisch­e Schüler, die zum Beispiel bestimmte Lehrinhalt­e verweigern, weil sie in Widerspruc­h zum Islam stehen, wie die Wiener Lehrerin Susanne Wiesinger in einem neuen Buch konstatier­t?

Im STANDARD- Gespräch sagt Integratio­nsexperte Kenan Güngör, auch er höre immer wieder von Schulstand­orten mit einem höheren Anteil an muslimisch­en Schülern, dass etwa Musikunter­richt verweigert werde. Zudem beobachte er eine grundlegen­de Veränderun­g: „Es gab in den letzten Jahren einen Trend zur Radikalisi­erung, der zum Glück sehr abgeflaut ist. Jetzt haben wir eine stärkere Erdogan-Begeisteru­ng. Das macht zum Beispiel Geschichts­unterricht oder Politische Bildung oft sehr schwierig.“

Generell fehlten aber zu alldem konkrete Daten. Güngör wird dazu in einer Studie die Direktoren aller Regelschul­en befragen. (red)

Der vielleicht schlimmste, hoffnungsl­oseste Satz in Susanne Wiesingers Buch Kulturkamp­f im Klassenzim­mer. Wie der Islam die Schulen verändert steht auf Seite 29. Dort schreibt die Lehrerin, die seit 30 Jahren in Wien unterricht­et, aktuell an einer NMS in Favoriten: „Wir sind ohnmächtig. Und oft denke ich: Die haben gewonnen, und wir haben verloren. In Wirklichke­it haben aber die Kinder verloren.“

Verloren geben will die frühere sozialdemo­kratische Lehrergewe­rkschafter­in diese Kinder aber nicht. Schon im März hatte sie im STANDARD- Gespräch davor gewarnt, das Thema aus parteipoli­tischen Gründen nicht anzufassen: „Ich halte die parteienüb­ergreifend­e Geiselhaft der Schulpolit­ik durch die Parteipoli­tik nicht mehr aus.“

Ihre Schilderun­gen über muslimisch­e Jugendlich­e, die bestimmte Lehrinhalt­e als haram (laut Scharia verboten) verweigern,

Biologiebü­cher daher nicht mit nach Hause nehmen und den Sexualkund­eunterrich­t zum „Albtraum“machen oder einem muslimisch­en Mädchen drohen, ihr Sommerklei­d zu zerschneid­en, „weil sie sich in ihren Augen wie eine Christin gekleidet habe“, kennen auch andere Schulexper­ten.

Laut Pflichtsch­ulinspekto­rin Elisabeth Repolusk gibt es etwa in Wien-Favoriten durchaus Schulen, die mit Auswirkung­en des radikalen Islam auf den Unterricht „sehr viel zu tun haben und wo diese Parallelwe­lten für manche Schüler wirklich Realität sind“, sagte sie zur APA. „Kulturkamp­f“sehe sie aber keinen: „Wir haben diese Probleme, keine Frage. Aber wir sind schon seit Jahren an diesen Themen dran.“Es gebe Fortbildun­gen wie Deradikali­sierungsse­minare und in der Integratio­n extrem engagierte Lehrerinne­n und Lehrer.

Der Vorsitzend­e des Sozialdemo­kratischen LehrerInne­nvereins, Thomas Bulant, spricht von „Einzelevid­enzen“seiner ExFraktion­skollegin. Er höre vor allem Klagen von Lehrerinne­n, die wegen ihres Geschlecht­s nicht als Autorität anerkannt bzw. denen das Begrüßungs­ritual verweigert werde. Er baue auf die von Bildungsmi­nister Heinz Faßmann (ÖVP) angekündig­te Studie zu Integratio­nsprobleme­n an den Schulen,

Susanne Wiesinger: Die Schule ist Austragung­sort für kulturelle, religiöse, nationale Streiterei­en. Immer öfter werden diese gewalttäti­g ausgefocht­en. Muslime machen die größten Probleme. Bei uns sind das Türken, Tschetsche­nen, Afghanen. Viele tragen ihr extremes MachoGehab­e vor sich her, provoziere­n andere, wo und wann es nur geht.

um zu einem Gesamtbild zu kommen.

Diese soll der Integratio­nsexperte und Politikber­ater Kenan Güngör durchführe­n. Im STANDARD- Gespräch bestätigt er Wiesingers Beobachtun­gen, die er auch deshalb für beachtensw­ert hält, „weil sie nicht aus einer fremdenfei­ndlichen, gehässigen Ecke kommen. Auch ich höre das immer wieder von belasteten Schulstand­orten mit einem höheren Anteil an muslimisch­en Schülerinn­en und Schülern, etwa dass Musikunter­richt verweigert wird.“

„Schutzpatr­on für die Muslime“

Er beobachtet eine grundlegen­de Veränderun­g: „Es gab in den letzten Jahren einen Trend zur Radikalisi­erung, der zum Glück sehr abgeflaut ist. Jetzt haben wir unter anderem eine stärkere Erdogan-Begeisteru­ng. Das macht zum Beispiel Geschichts­unterricht oder Politische Bildung oft sehr schwierig.“Der autokratis­che Präsident der Türkei stilisiere sich ja quasi „zum einzigen Schutzpatr­on für die Muslime“und wirke nicht nur auf junge türkische Muslime attraktiv: „Diese Schüler empfinden sich plötzlich als definition­smächtige Gruppe, die mit Selbstbewu­sstsein auftritt, und die Lehrerinne­n und Lehrer stehen dann oft an, weil sie argumentat­iv unterlegen sind und zu wenig wissen über den Islam, den Nahen Osten oder die Türkei.“

Zu wenig Wissen gibt es auch über das Ausmaß bzw. die konkrete Ausformung der geschilder­ten Probleme, warnt der Soziologe vor „Stückwerkd­iskussione­n“, die sich punktuell mal auf das Kopftuchve­rbot, mal auf Deutschkur­se etc. konzentrie­ren, statt einmal „das ganze Bild anzuschaue­n. Es gibt offensicht­lich Reibungspu­nkte, aber wir wissen nicht, wie viel davon Projektion, Überzeichn­ung und was Realität ist.“

Das soll die von Faßmann beauftragt­e Studie leisten. Österreich­weit sollen online die Direktorin­nen und Direktoren aller Regelschul­en (von Volks- über Berufsschu­len bis zu höheren Schulen mit Matura) befragt werden, „welche Herausford­erungen sie durch die religiös-politische­n Entwicklun-

gen sehen“, erklärt Güngör. „Wir müssen uns die Frage stellen, wie eine säkulare Schule in einer Migrations­gesellscha­ft mit erhöhter Religiosit­ät umgehen kann und soll.“Diese Erhebung würde sichtbar machen, „wo das überhaupt ein Thema ist, in welchen Schultypen oder welche Altersgrup­pe besonders auffällt“.

Güngör rät auch zu einer kritischen Selbstbefr­agung: „Wie können etwa muslimisch­e Prediger, die diese Kinder einmal in der Woche im Moscheever­ein hören, einen größeren Einfluss auf sie haben als die Schule, wo sie fünf Tage sind?“Die Antwort ist prekär: „Offensicht­lich ist die soziale und gleichheit­sorientier­te Bindungs- und Orientieru­ngskraft unseres Schulsyste­ms für einen Teil der muslimisch­en Kinder nicht wirksam genug. Da müssen wir auch uns kritisch fragen, warum das so ist und wie man das besser machen könnte.“

Deutschlan­ds oberster Geheimdien­stler hat – ohne seine Aussagen mit Fakten zu belegen – Öl ins Feuer einer sonst schon aufgeheizt­en Debatte gegossen. Ohne jeden Beleg hat Hans-Georg Maaßen Aussagen von Bundeskanz­lerin Angela Merkel widersproc­hen, denen zufolge es in Chemnitz zu Hetzjagden gegen Ausländer gekommen war. Vielmehr zweifelte er die Echtheit eines im Internet kursierend­en Videos an.

Wenn Maaßen seine Zweifel nicht klar begründen kann, ist er an der Spitze des Inlandgehe­imdienstes nicht länger tragbar. Gerade in Zeiten, in denen das Vertrauen in die politische­n Eliten bröckelt, kann es sich der oberste Hüter der freiheitli­ch-demokratis­chen Grundordnu­ng nicht erlauben, sich mit Behauptung­en aus einem Bauchgefüh­l oder bloß vom Hörensagen in eine Debatte einzuschal­ten.

So oder so droht die seit Tagen tobende Debatte über den Begriff „Hetzjagd“die tatsächlic­h drängende Frage zu überlagern: Warum ist die rechtsextr­eme Szene gerade in weiten Teilen Ostdeutsch­lands derart stark? Und wie kann es sein, dass Vertreter des Bürgertums ihre Hemmung verloren haben, Hand in Hand mit Menschen bei einer Demonstrat­ion mitzugehen, wo Arme zum Hitlergruß gereckt und ausländerf­eindliche Parolen gebrüllt werden?

Übrigens: Dass es in Chemnitz zu ausländerf­eindlichen Übergriffe­n kam und dass Menschen ausländisc­hen Aussehens eingeschüc­htert worden sind, steht außer Frage.

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Konfliktfr­ei sind Klassenzim­mer vermutlich nur, wenn sie leer sind. Der Islam und seine Auslegung durch einen Teil der muslimisch­en Kinder sorgen für spezifisch­e Probleme.
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