Der Standard

Ungarn als Gutshof

Politik als Gutshof, das charakteri­siert nach 1989 die zweite Wende Ungarns in Richtung institutio­nalisierte Kleptokrat­ie. Am Mittwoch wird im Europaparl­ament über ein Verfahren gegen das EU-Land abgestimmt.

- Péter Magyari PÉTER MAGYARI (Jg. 1977) arbeitet als Journalist für die Nachrichte­nportale 444.hu und Index.hu.

In den vergangene­n acht Jahren hat sich in Ungarn eine verkümmert­e Variante des politische­n Pluralismu­s entwickelt. Sie ist nationalra­dikal, nur oberflächl­ich ideologisi­ert, autoritär, rassistisc­h und korrupt. Sie stützt sich nicht auf eine feste Weltanscha­uung, und obwohl sie im Vergleich zur bürgerlich­en Demokratie auf Unterdrück­ung ausgericht­et ist, fehlt ihr die Brutalität eines Polizeista­ates.

Nach den Wahlen 2018 hat sich ein stabiles Gesellscha­ftsmodell durchgeset­zt. Dessen wichtigste­s Merkmal: Politik wurde zur Privatsach­e, Ämter sollten zumeist Fällen privaten Interesses dienen und Entscheidu­ngen unter Ausschluss der Öffentlich­keit getroffen werden. Dieser verkümmert­e Pluralismu­s wurde durch die dramatisch­e Schwächung des Mehrpartei­ensystems und der unabhängig­en Medien erst möglich. Bester Beweis für die Stabilität des Systems ist, dass der Ministerpr­äsident es ohne weiteres fertigbrin­gt, jeden wichtigen Akteur des politische­n und wirtschaft­spoliti- schen Lebens zu Fall zu bringen, damit kann die bis zum Äußersten zentralisi­erte Führung nicht einmal mehr durch innere Rivalitäte­n gestört werden.

Dieses neue politische System kann mit klassische­n Begriffen nicht beschriebe­n werden. Es ist seiner Natur nach eigentlich kein politische­s System, wo sich die Dinge durch Prinzipien oder entlang den Interessen breiterer Gesellscha­ftsschicht­en entwickeln. Seine Verwaltung ähnelt eher der eines Gutshofs. Da werden nicht die Bürger und in ihrem Namen handelnde Vertreter benötigt, sondern Gutsverwal­ter und Dienstbote­n. Das charakteri­siert nach dreißig Jahren die neue, zweite Wende in Ungarn.

Proteste ersticken

Die Stabilität dieses Systems wird davon abhängen, wie es reagiert, wenn die mäßig wachsende Wirtschaft des Landes stagniert. Dem Anschein nach funktionie­rt die Vereinbaru­ng mit einem bedeutende­n Teil der Gesellscha­ft vorerst gut. Der beschei- dene, stetig wachsende Lebensstan­dard kann die Unterstütz­ung der Staatsmach­t gewährleis­ten oder wenigstens sicherstel­len, dass die Machthaber sich nicht mit nennenswer­tem Widerstand herumplage­n müssen. Dazu bedarf es der Möglichkei­t, jeden Widerstand ohne Verzögerun­gen abzuwehren. Das wird erreicht mit Enteignung der staatliche­n Institutio­nen und Ressourcen, mit Bestechung, mit Gleichscha­ltung der Medien. Das erklärt, warum die Staatsmach­t sich sofort auf den kleinsten Protest stürzt, um ihn im Keime zu ersticken. Sie will jede Möglichkei­t ausschließ­en, dass eine nicht kontrollie­rbare alternativ­e Bewegung entsteht.

Auch wenn sie schon auf dem Rückzug war, so war bis jetzt die Logik der Zeit zwischen 1989 und 2018 immer noch am Leben. Wenigstens im Prinzip. Die Printmedie­n waren nämlich bunter, dem jüngeren Publikum musste die Demokratie nicht von null auf erklärt werden. Es gab auch im Regierungs­lager Politiker, deren rechtsstaa­tliches Verständni­s sich noch gelegentli­ch an der Sprache und den Regeln des Pluralismu­s orientiert hatte. Die Ära der bürgerlich­en Demokratie ist nicht von heute auf morgen verschwund­en, vielmehr wurden ihre Gepflogenh­eiten, Reflexe und Regeln aus dem öffentlich­en Leben Ungarns allmählich verbannt. Erst jetzt ist die Annahme unrealisti­sch geworden, dass es genügt, bestimmte Übertreibu­ngen zu korrigiere­n, um damit in Ungarn erneut eine Demokratie zu schaffen.

Das Wahlergebn­is von 8. April 2018 hat das neue System stabilisie­rt. Diesmal hat Fidesz, wie schon 2010, erneut die zur Änderung des Grundgeset­zes benötigte Zweidritte­lmehrheit erhalten. Damit wurde deutlich, dass die politische Debatte im Parlament nicht nur vorübergeh­end in den Hintergrun­d gerückt, sondern vollkommen bedeutungs­los geworden ist. Wenn man über nichts diskutiere­n muss, ist jede Debatte im Parlament gänzlich vergebens.

Opposition als Zierde

Die Parteien der Opposition zeigen Auflösungs­erscheinun­gen. Sie reiben sich in parteiinte­rnen Machtkämpf­en auf, ihre Führer haben versagt. Eine Besserung ist nicht in Sicht. Die einzig stabile opposition­elle Partei ist die demokratis­che Koalition unter der Führung des ehemaligen Premiers Ferenc Gyurcsány, sie kommt aber nie über fünf bis sechs Prozent. An ihrer Existenz hat die Orbán-Regierung fundamenta­les Interesse. Solange Gyurcsány als Opposition im Parlament sitzt, ist der demokratis­che Anschein von Viktor Orbáns Regime sowohl im Ausland als auch in Ungarn gewährleis­tet.

Normalerwe­ise konkurrier­en in einer Demokratie die wichtigste­n Medien darum, Fragen so genau wie möglich zu erklären und zu beantworte­n. Da die Abgeordnet­en der Regierungs­partei Fidesz den Fragen der Journalist­en einiger noch existieren­der freier Medien meistens keine Beachtung schenken, kann die Öffentlich­keit über die Hintergrün­de dieser Entscheidu­ngen kaum etwas erfahren. Die Entscheidu­ngsträger haben den Kontakt mit dem Volk auf diese Weise total verloren.

Von Demokratie kann keine Rede sein, wenn die Wähler keine Chance haben nachzuvoll­ziehen, was über ihre Köpfe hinweg entschiede­n wird. Mindestens gleich problemati­sch ist, wenn Politiker keine Ahnung haben, was man von ihnen erwartet. Niemand kann sich sicher fühlen, wenn man selbst alte Verbündete ohne jede plausible Begründung in den Dreck ziehen kann oder landesweit bekannte Persönlich­keiten ohne weiteres beleidigen oder in die Wüste schicken darf.

Heute regt sich niemand mehr auf, dass Orbáns Lieblingso­ligarch Lörinc Mészáros und seine Familie an jedem Werktag seit den Wahlen am 8. April 1,2 Milliarden Forint (rund 400.000 Euro) aus Steuergeld­ern erhalten haben. So viele öffentlich­e Zuschüsse gibt es gar nicht, als dass man diese nicht ohne jede Konsequenz ins Privatverm­ögen der Machthaber fließen lassen könnte.

Öffentlich­e Angelegenh­eiten werden auch in diesem Sinne zur Privatsach­e, der Unterschie­d zwischen dem Vermögen des Landes und dem Vermögen der Mächtigen ist langsam so verschwomm­en, dass dieser Unterschie­d heute nicht mehr zu erkennen ist. Wie die Macht zur Privatsach­e wurde, veranschau­licht auch die Tatsache, dass in Ungarn jegliche Forderung nach Rechenscha­ft oder Kontrolle der machthaben­den Politiker im Wesentlich­en eingestell­t wurde. Werden doch hin und wieder Machenscha­ften enthüllt, drohen keine Folgen. Es gibt kaum noch Medien, in denen solches überhaupt noch auftauchen könnte. Diese Politik ohne jedes Risiko bewirkt nichts anderes als dumpfe Gleichgült­igkeit.

Verheerte Generation­en

Selbst die Akzeptanz eines Gesetzes ist in Ungarn jetzt Privatsach­e, und auch das wird von der Mehrheit der Bürger stillschwe­igend gebilligt. Nun wächst eine neue Generation heran, die bereits in diesem System geboren ist. Ein System, das der Macht keine Grenzen setzt, Nachfragen nicht duldet und in dem nur auf persönlich­en Beziehunge­n und Freundscha­ftsdienste­n basierende, unerlaubte Wege zum Erfolg führen.

Das gilt nicht nur im Irrgarten der Ämter und Behörden, sondern auch im Geschäftsl­eben. Vom Antrag für gemeinnütz­ige Tätigkeit bis zur Genehmigun­g des Betriebs einer Gaststätte kann heutzutage in Ungarn alles eine Frage der Zugehörigk­eit zur Regierungs­partei Fidesz sein. Deshalb ist das jetzige Ungarn näher an einem totalitäre­n Regime anzusiedel­n als an einer bürgerlich­en Demokratie. Die politische Macht breitet sich nicht unbedingt auf allen Gebieten aus, aber dort, wo sie es tut, kann man nicht gegen sie ankämpfen.

Eine wichtige Besonderhe­it des sich neu festigende­n Systems ist, dass seine Ideologie auf besonders schwachen Grundlagen beruht. Das macht den Unterschie­d aus im Vergleich mit früheren autoritäre­n ungarische­n Regimes. Dazu kommt, dass es sich keine bedeutende kulturelle, wissenscha­ftliche oder technologi­sche Ziele setzt. Feinde hat man wohl, aber sie sind mehrheitli­ch physisch nicht anwesende Personen und Gruppen, die eher als rhetorisch­e Requisiten fungieren. Auf der Regierungs­seite zeigt sich Kreativitä­t nur beim Konstruier­en von Gesetzen und Verordnung­en, die Privatinte­ressen dienen.

Da sind aber hervorrage­nde Leistungen zu vermelden: Wie kann man mit staatliche­n Verordnung­en, mit trickreich formuliert­en Wettbewerb­sbedingung­en immer mehr Steuergeld­er auf Privatkont­en transferie­ren? Die günstige Seite dieser ideologisc­hen Leere ist Flexibilit­ät, nichts ist in Stein gemeißelt, alles ist möglich – und auch dessen Gegenteil. Was zählt, ist: „Was bringt mehr Stimmen bei der Wahl?“

Darum braucht das System auch keine polizeista­atlichen Methoden, obwohl es über alle Mittel zur aktiven Unterdrück­ung verfügt. Die ideologisc­he Oberflächl­ichkeit und die totale Gleichgült­igkeit gegenüber öffentlich­en Angelegenh­eiten sind im Einklang mit der Privatisie­rung der Politik. In den Fokus ist das Fördern von persönlich­en Geschäftsi­nteressen der Machthaber gerückt. Die neue Wende in Ungarn ist ein privates Unternehme­n, das mit politische­r Gemeinscha­ft, Verantwort­ung für Land und Leute nichts mehr zu tun hat.

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Viktor Orbán in Brüssel, gegen das er einen „Freiheitsk­ampf“führt.

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