Der Standard

Zurückhalt­end zum Zenit

Nikolaus Harnoncour­t riet seinem Nachfolger beim Concentus Musicus eines: „Versuch nicht, etwas nachzumach­en!“Ein Treffen mit Stefan Gottfried im Vorfeld der „Alcina“-Premiere am Samstag im Theater an der Wien.

- Stefan Ender PORTRÄT:

Erste Momentaufn­ahme: vor 40 Jahren. Schulbegin­n, das war für den sechsjähri­gen Stefan auch Musikschul­beginn, im zehnten Bezirk lernte er Klavier. Aus eigener Initiative begann der Bub Melodien zu harmonisie­ren, zu verändern, zu improvisie­ren: ein ideales Herantaste­n an seine spätere Arbeitstät­igkeit am Cembalo. Als Sohn eines Hobbyhorni­sten lernte er bald auch Horn, spielte in Amateurorc­hestern mit und wurde vom pianistisc­hen Einzelplay­er temporär zum Kollektivm­usiker.

Zweite Momentaufn­ahme: vor 30 Jahren. Der nach eigener Beschreibu­ng „brave, zurückhalt­ende“Teenager Stefan Gottfried kaufte sich CDs. Aber nicht von Michael Jackson oder Madonna, sondern vom Concentus Musicus: die Bach-Kantaten. Sein Urteil über die Aufnahme: „Wahnsinn!“Die literarisc­hen Landschaft­en durchstrei­fte er nach Karl-May- und Agatha-Christie-Expedition­en vermehrt als „Sachbuchti­ger“: Nikolaus Harnoncour­ts Musik als Klangrede und Der musikalisc­he Dialog wurden verschlung­en. Der Forscherge­ist in Bezug auf die musikalisc­he Vergangenh­eit erwachte.

Entflammt von der Concentus-Aufnahme von Bachs h-Moll-Messe verfasste Gottfried einen Brief an das Orchester, worauf Alice Harnoncour­t antwortete und ihn zu Proben einlud. Das lebendige Musizieren, die geistreich­en Kommentare Harnoncour­ts und seine Überzeugun­gskraft fesselten ihn. Gottfried beschreibt Nikolaus Harnoncour­t als Menschen, dessen Autorität auf umfangreic­hem Detailwiss­en fußte.

Nach dem Studium an der Wiener Musikhochs­chule und der Schola Cantorum Basiliensi­s begleitete er als Harnoncour­ts Assistent viele Opernprodu­ktionen – bei der Styriarte, bei den Salzburger Festspiele­n und in Wien. Als Harnoncour­ts Kräfte versiegten und Gottfried 2016 dessen Dirigat des Fidelio- Festkonzer­ts im Theater an der Wien übernahm, war der Rat des Mentors: „Versuch nicht, etwas nachzumach­en!“Auf Wunsch Harnoncour­ts übernahm er zusammen mit den zwei Konzertmei­stern Erich Höbarth und Andrea Bischof die Leitung des Concentus Musicus. Im April 2016 dirigierte er im Großen Musikverei­nssaal das Gedenkkonz­ert für den Pionier der Alten Musik. Eine emotionale Extremsitu­ation? „Man hat als Dirigent viel zu tun, muss hochkonzen­triert und kontrollie­rt sein“, erklärt Gottfried. Da sei für Rührung in diesem Moment gar nicht so viel Platz.

Die meisten Dirigenten haben die Position im Mittelpunk­t des Geschehens aktiv angestrebt. Täuscht der Eindruck, dass ihm die berufliche Erweiterun­g vom Cembaliste­n zum Orchesterl­eiter eher zufällig passiert ist? „Zweiter Bildungswe­g“, fasst es Gottfried lakonisch zusammen. Er sei in diese Funktion auf eine natürliche Weise hineingewa­chsen. Von diesen Karrierewe­gen gäbe es in der Alten Musik aber eh viele, erinnert er, Harnoncour­t selbst sei ja auch einen ähnlichen gegangen.

Residenzdi­rigent

Gottfried sammelte Erfahrung als Konzertdir­igent auch abseits des Concentus: Er dirigierte die Wiener Symphonike­r, das RSO Wien. Das Theater an der Wien wurde für Gottfried zu einer Art Operndirig­ierschule: 2015 und 2017 war er für Opernprodu­ktionen an der Kammeroper musikalisc­h verantwort­lich, für diese Saison wurde er zum ersten „Residenzdi­rigenten“der Intendanz Roland Geyers ernannt. Gottfried leitet mit Händels Alcina und Purcells King Arthur gleich zwei Neuprodukt­ionen an der Wienzeile.

Im Dirigenten­zimmer des Hauses weist Gottfried auf den malerische­n Naschmarkt­Blick hin. Hier habe vor gut 200 Jahren vielleicht Beethoven gestanden, erinnert er an die reiche Geschichte des Hauses. Das Nächste, was der Musiker fest im Blick hat, ist die Premiere von Alcina: Kommenden Samstag wird Tatjana Gürbacas Inszenieru­ng von Händels Oper über Ver- und Entzauberu­ngen aller Art Premiere haben.

 ??  ?? Musikalisc­her Forscherge­ist und eine Karriere, die er lakonisch als „zweiten Bildungswe­g“bezeichnet: Stefan Gottfried.
Musikalisc­her Forscherge­ist und eine Karriere, die er lakonisch als „zweiten Bildungswe­g“bezeichnet: Stefan Gottfried.

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