Der Standard

In der Visionslos­igkeit gefangen

Der schlechte Zustand der Sozialdemo­kratie ist hausgemach­t

- Manuela Honsig-Erlenburg

Viele Themen liegen politisch in Europa auf dem Tisch, doch vor allem eines scheint Wahlen zu entscheide­n. Der deutsche Innenminis­ter Horst Seehofer nannte die Migrations­frage jüngst die „Mutter aller politische­n Probleme“. Diese Einschätzu­ng gilt jetzt wohl auch für das als liberal geltende Schweden. Mit der aktuellen Parlaments­wahl, bei der die rechtspopu­listischen Schwedende­mokraten am Sonntag fast 18 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnten, setzt sich auch dort der Rechtsruck fort, der seit der Flüchtling­skrise 2015 fast alle Wahlen in Europa nachhaltig geprägt hat.

Vor allem die sozialdemo­kratischen Parteien büßten dabei massiv an Zustimmung ein, zu sehen in den vergangene­n zwölf Monaten in Österreich, Deutschlan­d und Italien. Der Verfall der Sozialdemo­kratie ist allerdings schon seit längerem ein Trend, den die Migrations­frage nur noch weiter beschleuni­gt hat. Die Parteienfo­rschung hat für den tiefen Fall so vieler einst stolzer Arbeiterpa­rteien mittlerwei­le einen eigenen Namen: „Pasokisier­ung“– benannt nach der Panhelleni­schen Sozialisti­schen Bewegung in Griechenla­nd. Über Jahrzehnte hinweg an der Macht, stürzte sie infolge der Euroschuld­enkrise in die Bedeutungs­losigkeit. ie Krise der Sozialdemo­kratie hat vielschich­tige Ursachen. In Italien wurde ihr Niedergang von internen Machtkämpf­en und Dissonanze­n mitbesiege­lt, in Deutschlan­d vom schweren Erbe der „Agenda 2010“von Gerhard Schröder und letztlich von einem profillose­n und unauthenti­schen Parteichef Martin Schulz. Die SPD ist aktuell zumindest in der Regierung, in Frankreich ist die Sozialisti­sche Partei, die sich nach ihrem Wahldesast­er in „Neue Linke“umbenannt hat, quasi nicht mehr existent. Und der Lichtblick unter den europäisch­en sozialdemo­kratischen Parteien, Großbritan­niens wählerstar­ke Labour-Partei, laboriert gerade an einem ausgewachs­enen Antisemiti­smusskanda­l.

Was die Sozialdemo­kratie in Europa eint, ist die Tatsache, dass sie nicht mehr genau sagen kann, wofür sie inhaltlich eigentlich steht. Viele sozialdemo­kratische Forderunge­n von einst sind heute längst erfüllt. Praxisrele­vante Antworten auf die rasanten Veränderun­gen der Gesellscha­ft bleibt

Dman schuldig. Was ist ein originär sozialdemo­kratischer Kurs in der aktuellen Wirtschaft­spolitik, in der Europapoli­tik, bei Fragen der Zuwanderun­g? Wo sind die Gegenkonze­pte zu neoliberal­en Exzessen, die die Finanzund Wirtschaft­skrise ausgelöst haben? Wo sind die Parteirebe­llen mit der Kraft zu einer grundlegen­den Erneuerung?

Das Proletaria­t, aber auch der wegbrechen­de Mittelstan­d fühlen sich in all diesen Fragen von den marktschre­ierischen und rückwärtsg­ewandten Populisten besser bedient. Die Sozialdemo­kraten sitzen derweil oftmals wie die Mäuse vor der Schlange, statt in die Hände zu spucken und ihr Profil zu schärfen.

Das gilt auch und vor allem für das heikle und derzeit alle anderen Fragestell­ungen überlagern­de Migrations­thema, wie man nun am Beispiel Schwedens wieder sieht. Dort hat die sozialdemo­kratische Regierung nach 2015 eine 180-Grad-Wende hingelegt und viele Positionen der Rechtsnati­onalen übernommen. Das war eine späte Notbremsun­g, die ihr viele Wähler zu Recht als Wahltaktik ausgelegt haben. Man wählt nun einmal lieber das Original als die Kopie.

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