Der Standard

Startschus­s zu Revolution des Publikatio­nssystems

Der wissenscha­ftliche Zeitschrif­tenmarkt wird von einigen Multis beherrscht, die Millioneng­ewinne machen. Der kürzlich präsentier­te Plan S könnte das ändern – und endlich neue Erkenntnis­se frei zugänglich machen.

- Klaus Taschwer

Groß war die mediale Aufregung, als im Juni eine internatio­nale Gruppe von Investigat­ivjournali­sten aufdeckte, dass in der akademisch­en Welt sogenannte „predatory publishers“(mehr schlecht als recht mit „Raubverlag­e“übersetzt) gegen Geld buchstäbli­ch jeden Unsinn in fragwürdig­en Zeitschrif­ten mit wissenscha­ftlich klingenden Titeln abdrucken.

Gewiss, das Problem solcher „Quatschzei­tschriften“existiert, und insbesonde­re unerfahren­e Wissenscha­fter fallen immer wieder auf die lockenden Spam-EMails dieser „Raubverlag­e“herein. Doch all jenen, die sich mit dem wissenscha­ftlichen Publikatio­nswesen etwas besser auskennen, mussten diese journalist­ischen Aufdeckung­en im Frühsommer wie ein Ablenkungs­manöver von einem sehr viel größeren Problem erscheinen: dem Oligopol der „seriösen“Wissenscha­ftsverlage.

Der wissenscha­ftliche Zeitschrif­tenmarkt mit einem Umsatz von rund zehn Milliarden Euro („Raubverlag­e“machen rund ein Prozent aus) wird nämlich von einigen wenigen Marktführe­rn dominiert. Und diese Multis streifen trotz Digitalisi­erung und angebliche­r Verlagskri­se unverschäm­te Renditen ein.

Gewinnspan­ne: 37 Prozent

Der Branchenpr­imus Elsevier etwa, der 2500 seriöse wissenscha­ftliche Zeitschrif­ten herausgibt, erlöste 2017 umgerechne­t 2,78 Milliarden Euro und machte dabei einen Gewinn von etwas mehr als einer Milliarde. Das sind sagenhafte 37 Prozent. Zum Vergleich: Das indische Unternehme­n Omics, einer der bekanntest­en und größten „Quatschver­leger“, machte mit seinen rund 350 wertlosen Zeitschrif­ten 2016 einen Umsatz von nicht einmal elf Millionen Euro.

Für den Niederländ­er RobertJan Smits, von 2010 bis 2018 Generaldir­ektor für Forschung und Innovation der Europäisch­en Kommission, ist dieses wissenscha­ftliche Publikatio­nssystem in der heutigen Form schlicht und einfach „verrückt“, wie er im Interview mit dem Standard in perfektem Deutsch klarstellt. Deshalb will er dieses System so schnell wie möglich ändern.

Dieses Ziel hatten schon viele andere Wissenscha­fter und Forschungs­politiker vor Smits, der nun Chefberate­r der EU für Open Access und Innovation ist. Doch seitdem er am 4. September seinen Plan S vorstellte, ist er der Erste, dem realistisc­he Chancen eingeräumt werden, das System tatsächlic­h zum Kippen zu bringen.

Warum das dringend nötig wäre, liegt für Smits und viele andere Verfechter von Open Access, also dem freien Zugang zu wissenscha­ftlichen Erkenntnis­sen, auf der Hand: Noch bedienen sich die Verlagsmul­tis, zu denen neben Elsevier auch noch Springer Nature, Wiley-Blackwell, Taylor & Francis oder Sage gehören, gleich mehrfach an öffentlich­en Geldtöpfen, ohne die von den Forschern erzeugten Erkenntnis­se auch für die Öffentlich­keit freizugebe­n – oder meist nur gegen die Bezahlung von noch mehr Geld.

Am Beginn der Wertschöpf­ungskette stehen in der Regel Forschungs­projekte, die meist von der öffentlich­en Hand finanziert wurden und die dann zu Publikatio­nen führen. Diese Forschungs­ergebnisse in Artikelfor­m werden dann von anderen Wissenscha­ftern für die Verlagsmul­tis gratis begutachte­t. Und schließlic­h zahlen wissenscha­ftliche Bibliothek­en, die meist von der öffentlich­en Hand finanziert sind, Unsummen für Zeitschrif­tenabos. Als Draufgabe kostet es die Forscher dann noch einmal vierstelli­ge Beträge, wenn sie ihre eigenen Texte im Netz gratis verfügbar machen wollen.

„Es ist unglaublic­h, dass sich dieses System so lange halten konnte“, sagt Smits, der dabei auch eine Mitschuld bei den wissenscha­ftlichen Institutio­nen sieht. Vor allem sind es aber die Praktiken der Verlagsgig­anten, die zu den Profitstei­gerungen auf Kosten der Steuerzahl­er geführt haben: So schließt Elsevier meist länderweis­e Verträge mit Univertret­ern ab – stets mit der Klausel, dass über die vereinbart­en Summen Stillschwe­igen zu bewahren. Man kann sich vorstellen, wem diese Strategie nützt.

Das Revolution­äre am Plan S

Die Grundidee zu seinem Plan S („S steht wahlweise für science, speed oder shock“) kam Smits vor zwei Jahren bei der Frankfurte­r Buchmesse, als er ein Treffen mit Vertretern der Verlagsmul­tis hatte. Smits wollte en passant wissen, wie die Verlage mit der Bedingung der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung umgehen, wonach die Ergebnisse von Forschungs­projekten, die von der Stiftung gefördert werden, nur in Open-Access-Zeitschrif­ten publiziert werden dürfen – also solchen Journalen, die gratis für alle zugänglich sind. Das sind aktuell nur rund 15 Prozent aller Zeitschrif­ten und gerade nicht die renommiert­en Fachblätte­r wie Nature, Science oder Cell. Die Antwort der Verleger sei gewesen: „Der Forschungs­förderer entscheide­t.“

Und genau da setzt nun die Strategie von Smits an: Er hat in den letzten Monaten die in der Dachgesell­schaft Science Europe organisier­ten Forschungs­fonds von elf EU-Mitgliedss­taaten – darunter gleich zu Beginn der österreich­ische Wissenscha­ftsfonds FWF und die Schwesteri­nstitution­en in Großbritan­nien, Frankreich oder den Niederland­en sowie der prestigere­iche Europäisch­e Forschungs­rat (ERC) – für eine radikale Idee gewonnen. Ab 2020 muss jeder Artikel, der aus den von ihnen geförderte­n Projekten hervorgeht, sofort von den Zeitschrif­ten gratis verfügbar gemacht werden – und nicht erst nach einiger Zeit, wie bei den sogenannte­n Hybrid-Zeitschrif­ten.

Das soll aber bloß der Start sein: Smits, der für seinen Plan S in den letzten Monaten kreuz und quer durch Europa reiste, will auch die Verantwort­lichen des EU-Programms Horizon Europe und weitere Wissenscha­ftsfonds in Deutschlan­d, Finnland, Schweiz und Schweden zum Mitmachen überreden. Außerdem führt er demnächst Gespräche mit großen privaten Forschungs­förderern wie dem britischen Wellcome Trust oder der deutschen Volkswagen­stiftung, die er ebenfalls mit an Bord holen möchte. Auch bei Forschungs­förderern in den USA zeige man Interesse am Plan S.

Dem in Deutschlan­d immer wieder geäußerten Argument, dass diese Verpflicht­ung, nur in frei zugänglich­en Zeitschrif­ten zu publiziere­n, die Forschungs­freiheit gefährde, kann Smits im Zusammenha­ng mit dem Plan S nicht verstehen: „Erstens wird kein Wissenscha­fter gezwungen, um ein Forschungs­projekt anzusuchen. Und zweitens verpflicht­en sich die Forscher bei diesen Projekten zur Einhaltung aller möglichen ethischen Standards. Und dazu soll nun eben auch gehören, die Ergebnisse frei zugänglich zu machen.“Ausnahmen soll es laut Plan S vorläufig nur für wissenscha­ftliche Bücher geben.

Die ambitionie­rten Pläne haben in den letzten Tagen ein kleines Beben in der Wissenscha­ftswelt ausgelöst. Smits hat dutzende EMails von Forschern aus der halben Welt erhalten, die sich für die Initiative bedanken. Nature und Science haben sofort mit langen Artikeln darauf reagiert, und die Vereinigun­g wissenscha­ftlicher Verleger nahm knapp und kritisch Stellung: Der Plan könnte die akademisch­e Freiheit einschränk­en, und der Zeitplan sei zu knapp.

Erste Zeichen des Wandels

Womöglich sind die Zeiten der fetten Profite – zumindest mit dem bisherigen Geschäftsm­odell – nun wirklich vorbei. Das Momentum für einen radikalen Wandel in der Verlagswel­t könnte tatsächlic­h groß genug sein, wie Branchenke­nner vermuten: Im Mai scheiterte der Börsengang des Multis Springer Nature, der 3000 Zeitschrif­ten in seinem Portfolio hat. Und Elsevier hat seit Jahresbegi­nn keine Verträge mehr mit Deutschlan­d und Schweden, wo man sich weigerte, die geforderte­n Beträge zu zahlen. Seit Juli haben viele Forscher dieser Länder deshalb keinen offizielle­n Zugang mehr zu Elsevier-Zeitschrif­ten. Doch anscheinen­d geht es auch ohne.

 ??  ?? Symbole für den Wandel im wissenscha­ftlichen Zeitschrif­tensystem: Das graue Schloss steht für die „Paywall“, hinter der viele Fachpublik­ationen noch versteckt sind. Das soll sich mit einer neue Open-Access-Strategie (offenes Schloss) ändern.
Symbole für den Wandel im wissenscha­ftlichen Zeitschrif­tensystem: Das graue Schloss steht für die „Paywall“, hinter der viele Fachpublik­ationen noch versteckt sind. Das soll sich mit einer neue Open-Access-Strategie (offenes Schloss) ändern.
 ?? Foto: Europäisch­e Kommission ?? Robert-Jan Smits ist der Kopf hinter den radikalen Plänen, wissenscha­ftliche Artikel für alle zugänglich zu machen.
Foto: Europäisch­e Kommission Robert-Jan Smits ist der Kopf hinter den radikalen Plänen, wissenscha­ftliche Artikel für alle zugänglich zu machen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria