Der Standard

Der Ungeist Europas

Ungarns Premier Orbán verletzt EU- Grundwerte, ein Verfahren kommt viel zu spät

- Thomas Mayer

Viktor Orbán liebt die Macht, die er da und dort bis zum autoritäre­n Missbrauch dehnt. Mehr noch genießt es der ungarische Ministerpr­äsident, bei einer aufgeheizt­en Kontrovers­e im Mittelpunk­t zu stehen, hart attackiert von besonnenen Kritikern wie erklärten Gegnern.

Dieses Phänomen ließ sich am Dienstag – zum wiederholt­en Male seit 2010 – im Plenum des Europäisch­en Parlaments gut beobachten. Dort ging es um eine sehr, sehr ernste Sache für Ungarn. Wochenlang war im Vorfeld darüber debattiert worden, ob man ein Artikel-7-Verfahren wegen „schwerwieg­ender Verletzung der Grundwerte der Union“durch die Regierung in Budapest anstoßen soll.

Juristisch gesehen handelt es sich dabei um die wohl schärfste Sanktion, zu der die EU-Partner gegen ein Mitgliedsl­and greifen können: durch den Entzug von Stimmrecht­en im Rat. Das wäre der Fall, sollten die Staats- und Regierungs­chefs am Ende eines komplex abgesicher­ten Verfahrens zu der Erkenntnis kommen, dass die Regierung in Budapest bewusst, wiederholt und ohne Einsicht das Allerheili­gste der Union negierten: das Prinzip der Rechtsstaa­tlichkeit, die Herrschaft des Rechts, die unveräußer­lichen Grundund Freiheitsr­echte.

Wenn diese Säulen einer zivilisier­ten Gesellscha­ft eingerisse­n werden, dann kann die Gemeinscha­ft einpacken. Dann werden am Ende Freiheit und Sicherheit der Menschen zu beliebigen Begriffen. Dann ist nicht mehr sicher, dass der einzelne Bürger zu seinem Recht kommt. Dann besteht die Gefahr, dass man in Willkür abgleitet.

Über all das wollten die EU-Abgeordnet­en diskutiere­n, gestützt auf einen kritischen Bericht, zu dem gleich vier Ausschüsse beitrugen.

Man hätte also annehmen können, dass ein verantwort­ungsvoller Regierungs­chef eines noch relativ jungen, kleinen EU-Landes wie Ungarn alles versucht, um ein Verfahren abzuwenden, umso mehr, als Orbán sich selbst zu der Debatte eingeladen hatte. Sein Redebeitra­g bewirkte dann aber, gezielt und geplant, das genaue Gegenteil.

Orbán holte zu einer Art von Rundumbesc­himpfung der EU-Partner, der Abgeordnet­en und der Kommission aus, wie man sie in Straßburg noch nie erlebt hat. Es war fast beklemmend zu erleben, wie da jemand behauptet, die EU wolle „Freiheitsk­ämpfer des Widerstand­s“verurteile­n, „die Ehre des ungarische­n Volkes verletzen“, „dem konstrukti­ven Dialog einen Schlag versetzen“. Der Premiermin­ister sprach mitten im Haus der Bürgerkamm­er so, als befinde er sich in Feindeslan­d, als ginge es dort allen einzig und allein darum, „das ungarische Volk“zu demütigen. Es war stellenwei­se beklemmend. Orbán setzte sich mit allen Ungarn gleich: ein Volk, ein Führer.

Es zeigt sich nun, dass in Wahrheit nicht nur das EU-Parlament, sondern vor allem auch die Kommission und die EU-Partnersta­aten viel zu lange zu- geschaut haben, wie die Regierung Orbán seit 2010 stückweise immer weiter vom Grundkonse­ns der EU-Verträge weggedrift­et ist, ohne Wirkungsvo­lles dagegen zu unternehme­n. Orbán hatte bei Einwänden aus Brüssel bisher immer wieder Kompromiss­e gemacht, Gesetze angepasst, eingelenkt.

So wie er heute auftritt, versteht er nicht mehr, dass es weder um ihn noch kollektiv um die Ungarn geht, sondern darum, ob die Union überall auf denselben Prinzipien und Werten fußt. Um das festzustel­len, muss eine Gemeinscha­ft sich selbst prüfen. Das Ungarn-Verfahren kommt viel zu spät.

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