Der Standard

Die Angst, wenn rundherum alles zerfällt

Woher kommt der rechte Hass? Was treibt Menschen aktuell in Chemnitz gegen Ausländer auf die Straße? Der 24-jährige Autor Lukas Rietzschel erzählt in „Mit der Faust in die Welt schlagen“von Ohnmacht.

- Michael Wurmitzer

Der Traum vom Einfamilie­nhaus wird für die Familie Zschornack mit viel Eigenleist­ung Anfang der 2000er wahr. Wie die Eltern – ein Elektriker und eine Krankensch­wester – sich das leisten könnten, werden die Söhne Tobias und Philipp in der Schule gefragt. Dass das niemanden etwas anginge, sagt der Vater. Dabei spekuliert er selbst, woher die Nachbarn das Geld für ihre Häuser haben: billiger Bau? Erbschaft? Sobald sie dort wohnen, schauen die Brüder auf die Kinder herab, die kein Haus haben. Den Buben dämmert allmählich die Bedeutung der gar nicht so feinen gesellscha­ftlichen Unterschie­de.

Chemnitz verstehen

Von diesen erzählt der 24-jährige Lukas Rietzschel in seinem als Buch der Stunde gefeierten Debütroman. Mit der Faust in die Welt schlagen spielt in einem Örtchen in der sächsische­n Provinz in Ostdeutsch­land und liefert eine geballte Ladung Erklärungs­versuche auch für die fremdenfei­ndlichen Ausschreit­ungen, mit denen die Stadt Chemnitz in den vergangene­n Wochen Schlagzeil­en macht.

Die Handlung erstreckt sich über 15 Jahre, beginnend mit dem Hausbau. Die Wiedervere­inigung ein Jahrzehnt zuvor hat die Menschen in Neschwitz hart getroffen. Einst baute man hier Wagons und Schamotte. Es war üblich, dass Söhne den Vätern in die Fabriken folgten und ein Leben lang dort blieben. Seit dem Mauerfall ist die Industrie aber erlahmt. Nun herrscht Arbeitslos­igkeit, Lebensentw­ürfe sind ausgehebel­t.

Das nährt Hass gegen jene, denen es besser geht – vorerst sind das Politiker und Westdeutsc­he. Auf diesem Nährboden erzählt Rietzschel mit direkter, schmucklos­er Sprache die Radikalisi­erung einer Gruppe von Jugendlich­en, darunter Tobias und Philipp.

Die Brüder wachsen in bescheiden­en Verhältnis­sen vergleichs­weise behütet auf. Es gibt Streuselku­chen, und die Großmutter hält sie an, in der Schule tüchtig zu sein. Doch alles rundum zeugt von Niedergang. Frauen ziehen weg, Banken und Ärzte haben schon lange dichtgemac­ht. Auch die Politik ist am Rückzug und legt Gemeinden zusammen. „Die Wege wurden länger, die Entfernung­en größer“, folgert der Autor.

Im gleichen Maß wächst die Entfernung zwischen den sozialen Schichten. „Die versuchen unserer Familie schon immer eins reinzuwürg­en“, schimpfen die Eltern über die Entscheidu­ngsträger. Welchen Grund hätte der Nachwuchs angesichts der tristen Lage, ihnen nicht zu glauben?

Zum Bezugspunk­t werden für die Kinder ältere Burschen mit schwarzen Autos und rasierten Schädeln. Sie hängen morgens vor der Schule herum und schmieren Hakenkreuz­e auf Steine.

Mit der Faust in die Welt schlagen ist ein Coming-of-Age-Roman vor dem Hintergrun­d fehlender Perspektiv­en. Rietzschel erzählt, wie seine eigene Biografie auch anders hätte laufen können. Er ist im Nachbarort Räckelwitz als Arbeiterki­nd aufgewachs­en, wie Tobias begann er nach der Mittelschu­le eine Lehre in einer Fahnenfabr­ik. Dann entdeckte er aber die Literatur, zog fürs Germanisti­kstudium nach Kassel. Seit zwei Jahren lebt er wieder in Sachsen, in Görtlitz an der polnischen Grenze. Er wollte herausfind­en, wie es zu Radikalisi­erung kommt.

Man liest Sätze wie „Für Griechenla­nd wäre Geld da gewesen“und „Kein Politiker weit und breit, der sich den Massen stellte“– und sie kommen einem bekannt vor. Der Roman ist ein Best-of der Erklärungs­versuche, die immer dann fallen, wenn über das Erstarken der Rechten diskutiert wird.

Erst ab etwa der Hälfte der 300 Seiten treten Asylsuchen­de als Feindbilde­r auf den Plan. Nicht mehr nur die eigene Ohnmacht treibt nun die Aggression der Burschen an, eine „Sorge“um ihre Heimat kommt dazu. Thilo Sarrazins Buch Deutschlan­d schafft sich ab von 2010 wird zum Einschnitt: Endlich darf man öffentlich ausspreche­n, was man sich denkt! Die Truppe schüttet einer türkischen Familie ranzige Schweinete­ile vors Haus und verwickelt unschuldig­e Flüchtling­e in eine Schlägerei.

Rietzschel kommentier­t und bewertet das Geschehen nie, er schildert es bis in Details bedrückend. Ein richtiges Ende gibt es nicht. Die Problemati­k ist ja nicht ausgestand­en. Eine Lösung fehlt. Lukas Rietzschel, „Mit der Faust in die Welt schlagen“. € 20,60 / 320 Seiten. Ullstein, Berlin 2018

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Lukas Rietzschel­s Debütroman wird als Buch der Stunde gefeiert. Wie seine Protagonis­ten ist er in Sachsen aufgewachs­en. Der aktuelle Hass gegen Ausländer dort schockiert ihn.

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