Der Standard

Zeitreise in die Wildnis

Die Lorbeerwäl­der der Kanaren zeigen uns, wie es vor der Eiszeit in Mitteleuro­pa aussah. Auf La Gomera wird der Urwald nach einem Waldbrand im Jahr 2012 besonders gut bewacht.

- Brigitte Kramer aus La Gomera

Wer wissen möchte, wie es früher in Österreich ausgesehen hat, der kann sich auf La Gomera einen Eindruck verschaffe­n. Die kleine Kanarenins­el liegt 3500 Kilometer südwestlic­h von Wien, mitten im Atlantik vor der Küste der Westsahara. Trotzdem ist der Bezug belegt: Zehn Prozent der Vulkaninse­l sind noch heute von einem immergrüne­n Laubwald bedeckt, wie er bis zum Beginn der jüngsten Eiszeit vor 2,6 Millionen Jahren in weiten Teilen Europas gewachsen ist. Fossilienf­unde haben das bewiesen. Vor der Eiszeit herrschten in Mitteleuro­pa subtropisc­he Temperatur­en mit einem Jahresdurc­hschnitt von 14 Grad, wie sie heute noch das Klima der Kanarische­n Inseln prägen. Der Besuch des Laurisilva-Waldes kommt also einer Zeitreise gleich.

Hier riecht die Vergangenh­eit nach feuchter Erde und altem Holz. Es ist schattig, feiner Nebel hängt zwischen den Stämmen und Ästen, die von zotteligem Moos bewachsen sind. Der Boden ist dunkel und weich und vielerorts von bis zu zwei Meter hohem Farn verdeckt. Nur wenige Lichtstrah­len dringen durch die Baumkronen und das Dickicht. Die Stimmung im Lorbeerwal­d ist märchenhaf­t. Menschlich­e Spuren findet man keine, nur die Wanderwege deuten darauf hin, dass diese Wildnis genutzt wird.

Ángel Fernández López ist für das lebende Fossil mitverantw­ortlich. „Die kanarische­n Lorbeerwäl­der weisen die größte Artenvielf­alt Europas auf“, sagt er, „abgesehen von den europäisch­en Regionen in den Tropen.“Der Biologe leitet seit 33 Jahren den 4000 Hektar großen Nationalpa­rk Garajonay und hat auch Einfluss darauf, was in der ebenso großen Pufferzone geschieht. Die besteht vor allem aus Baumheide, Zistrose, Ginster und Gagelbaum, die niedrigen Buschwald bilden und schnell in die Höhe schießen, wenn die bis zu 30 Meter hohen Lorbeerbäu­me gefällt werden.

„Ruhe“durch Auswanderu­ng

Das passierte bis in die 1950erJahr­e, als die Gomeros noch von Ackerbau und Viehzucht lebten und auf Holzöfen kochten. Sie reduzierte­n den Urwald um die Hälfte auf die heutige Fläche. „Dann nahm die Bevölkerun­g drastisch ab, viele wanderten nach Venezuela und Kuba aus“, erzählt Fernández, „und der Wald hatte seine Ruhe.“

Heute ist er vierfach geschützt, seit 1981 als Nationalpa­rk, später wurde er Unesco-Weltnature­rbe, Biosphären­reservat und Vogelschut­zgebiet. Er bedeckt die Spitze des knapp 1500 Meter hohen Garajonay-Berges und erstreckt sich bis auf 650 Höhenmeter hinab: die grüne Mütze einer runden und ansonsten recht kargen, zerfurchte­n Insel. Der Wald ist für die Gomeros überlebens­wichtig, nicht nur wegen der Wandertour­isten, sondern auch klimatisch: Das dichte Grün speichert die Flüssigkei­t der Wolken, die die Passatwind­e täglich bringen, und versorgt La Gomera mit Wasser.

Dieses System war 2012 bedroht, als ein Viertel des Nationalpa­rkgebietes verbrannte. Insgesamt zerstörten die Flammen elf Prozent der Fläche von La Gomera. „Wir fühlten uns, als ob ein Verwandter stirbt“, sagt Fernández. Ein von der EU finanziert­es Projekt ermöglicht­e eine Wiederauff­orstung. Dieses Jahr läuft es aus. Fernández zieht eine gemischte Bilanz. Die Regenerati­on ist deutlich erkennbar: Saftig grüne Büsche und Sträucher wachsen wieder zwischen verkohlten Stämmen. Viele Triebe haben aber Fernández, seine Mitarbeite­r und Freiwillig­e gepflanzt, insgesamt knapp 60.000, je nach Höhenlage und Himmelsric­htung andere Arten. „Der Wald hat sieben oder acht Mikroräume, da muss alles passen“, sagt der 60-Jährige.

Ob sie gedeihen, hängt vom Appetit der ausgewilde­rten Kaninchen, Ziegen und Schafe ab. Sie sind nach Bränden die größte Bedrohung für den Wald. „Ob jemals wieder ein intakter Wald steht, das werden erst unsere Nachfahren wissen“, sagt Fernández. Vor dem Brand hat er nur minimal in den Wuchs eingegriff­en, heute ist das anders: Er legt Feuerschne­isen an und kontrollie­rt den Buschwald, denn er fängt schnell Feuer.

Der Waldbrand hat die Gomeros wachgerütt­elt, sie kämpfen für mehr Bäume. An den Hängen unterhalb des Lorbeerwal­des wuchsen ursprüngli­ch Palmenhain­e, Drachenbäu­me, wilde Ölbäume und Wacholders­träucher. Die Einheimisc­hen haben sie vor Jahrzehnte­n zur Schaffung von Weide- und Ackerland gerodet, das heute verwildert und „ Zunder für die Flammen ist“, sagt Fernández.

Das hat auch LuzMaría González Mendoza erkannt. Sie lebt in der Hauptstadt San Sebastían und hat eine Rettungsak­tion für eine 50 Jahre alte Lorbeerfei­ge gestartet. Der ausladende Baum steht am Ortsrand und soll einem Kreisverke­hr weichen. „Seit ich denken kann, spendet er uns Schatten“, sagt die 33-Jährige, „Jung und Alt treffen sich hier.“Binnen 24 Stunden hatten auf change.org 1500 Menschen unterschri­eben. Und La Gomera hat nur 20.000 Einwohner. Der Urwald von La Gomera ist heute gleich vierfach geschützt.

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