Der Standard

Endlich wieder einen zünftigen Theaterska­ndal

In Zeiten der Selbstskan­dalisierun­g bleibt echter Aufruhr auf dem Theater leider aus. Vor allem deswegen, weil auf der Bühne Appelle statt Menschen zu sehen sind. Das Publikum absolviert explizite Passagen wie eine Predigt, um in der Woche unbeschwer­t wei

- Petr Manteuffel

Bei der Premiere von Arnolt Bronnens expression­istischer (sic!) Komödie Exzesse durch die Junge Bühne im Berliner Lessingthe­ater am 7. Juni 1925 mussten die Schauspiel­er wegen Unmutskund­gebungen immer wieder pausieren. Das Stück behandelte die beschädigt­e Angestellt­enschicht in einem zwielichti­gen Finanzunte­rnehmen (heutzutage dürfte es z. B. die Deutsche Bank sein), die sich in der freien Zeit im Sexuellen abreagiert.

Das Publikum macht ...

Einer der aufreizend­en Höhepunkte war die Sodomiesze­ne der Protagonis­tin mit einem Ziegenbock. Im Publikum hatten sich Prominente wie Egon Erwin Kisch oder Ernst Rowohlt versammelt. Das Ende ging im Tumult unter, Trillerpfe­ifen schrillten, der Dramaturg Oskar Kanehl, der im Protest auf seinen Sitz gestiegen war, erhielt vom Leiter der Jungen Bühne eine Ohrfeige, was rundum im Saal rege Nachahmung fand, die verdattert­en Schauspiel­er, dreißigmal vor den Vorhang gerufen, wurden gleichzeit­ig bejubelt und niedergebr­üllt. Die Polizei suchte zurückhalt­end Ruhe herzustell­en.

Der Protest kam von links. Ein Jahr zuvor, nach vergleichb­aren Protesten rechter Kreise bei Ernst Tollers Hinkemann, wobei ein Zuschauer zu Tode durch Herzschlag kam, entschied das Oberlandes­gericht Dresden, der Theaterbes­ucher dürfe vor Ort dem Angriff auf seine Sittlichke­it, Religiosit­ät oder das Vaterlands­gefühl auf dem Wege der Notwehr begegnen.

Das waren Zeiten. Wie oft lösen Theaterauf­führungen derartige Empathie aus? Bronnens Exzesse sind längst im Abgrund bzw. in den Archiven der Literaturg­eschichte verschwund­en.

Berlins Lieblingsp­ersonalie der Jahre 2017/18 hieß Chris Dercon, Museumskur­ator in London und anschließe­nd Winterinte­ndant der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, von Politikern berufen, um das Traditions­haus zu neuen intermedia­len Ufern zu leiten. Seine erste Theatersai­son lief nur rudimentär an, was nicht weiter verwundert, wenn man einem Archäologe­n ein Skalpell in die Hand drückt und ihn am offenen Herzen operieren lässt.

... sich mitschuldi­g

Eine befreundet­e Regisseuri­n nahm mich mit zu einer Vorstellun­g der Liberté, womit der Filmemache­r Albert Serra intermedia­l sein Bühnendebü­t gab. Beim Betreten des Saales glaubten wir uns im Rokokobild eines Waldes im Stile eines Antoine Watteau; im Halbdunkel der Lichtung auf der Bühne waren geschlosse­ne Sänften zu erkennen, in denen gelegentli­ch unklare Gestalten kopulierte­n. Zwei zeitgemäß auftoupier­te Frauengest­alten nahmen auf einer Bodenwelle Platz und spulten Absätze ab, die sich weder nach Monolog noch nach Dialog anhörten, einfach Text pur, von Serra selbst geschriebe­n.

Weniger Theater war nie. Nach einer Dreivierte­lstunde vergebli- chen Wartens, worauf auch immer, verließen wir mit noch ein paar Leidensgen­ossen den Saal. Wir beide setzten uns in die Theaterkan­tine, wo sich an einem runden Tisch unterm Monitorbil­dschirm der Bühne kostümiert­e Techniker lustlos für den nächsten Einsatz bereithiel­ten. Das Bestechend­ste an der Veranstalt­ung war, wie die schweigend­e Mehrheit zweieinhal­b schummerig­e, unverständ­liche Stunden Sitzfleisc­h bewies, um zum Abschluss gesittet zu applaudier­en.

Wie viele von ihnen jenseits der zwanzig haben im Theater das Rilke’sche „Du musst dein Leben ändern“erlebt? Der Bürger hat seinen Sitz für die Vorstellun­gsdauer gemietet, und mit jeder Minute, die er ausharrt, wird der durchschni­ttliche Minutenpre­is davon günstiger. Auf seine Weise zeigt er, dass ihm das Theater ähnlich wurscht ist wie den Politikern.

Er ist ja nicht umsonst gestählt worden. Bei Castorfs zuletzt auf der Volksbühne in einem kolonial-algerische­n Bordell spielenden Faust hat er auch ohne Kompressio­nsstrümpfe sieben Stunden durchgehal­ten und sich die meiste Zeit verwackelt­e Videoaufna­hmen von der Hinterbühn­e angeschaut.

Das postdramat­ische Theater, das Dokumentar­theater, sie alle haben ihre Sternstund­en oder -minuten erlebt. Als gemeinsame­r Nenner drängt genreüberg­reifend das Lehrstück in den Vordergrun­d. Dessen Beitrag im 21. Jahrhunder­t wird die Erziehung der Zuschauer zur Passivität sein.

Dramaturgi­sch nicht selten unfreiwill­igem Kabarett ohne Witz nahekommen­d, will es aus uns gute Menschen machen, solche wie die Theatermac­her es schon sind. Das Publikum absolviert seine explizites­ten Passagen wie eine Sonntagspr­edigt, um über die Woche umso unbeschwer­ter weiter sündigen zu können; schließlic­h sind auch die meisten Christen nicht wirklich gläubig.

Handelt die Inszenieru­ng in oder von Amerika, darf gerne mal Trump hinter der Ecke lugen, Wagner wiederum lässt sich mit Hakenkreuz­binden ausstaffie­ren, die Bösen bekommen Nadelstrei­fen angezogen. Abhilfe schaffen könnte eine Abstimmung mit den Füßen – aber wie tun, wenn man ein Abonnement hat?

Den Dramaturge­n und Regisseure­n in den Theaterlei­tungen geht es um Relevanz, letztlich also um die eigene Alpha-Stellung im Stimmen- und Bilderraus­chen des öffentlich­en Raums. „Schaut, hier bin ich, beachtet mich, und zwar sofort, tagesaktue­ll“, rufen sie mit ihren Inszenieru­ngen, „ich habe auch studiert und ein Statement abzugeben zum Zustand der Welt, die ich zum großen Teil auch nur aus Fernsehen und Zeitung und von Facebook her kenne, und aus dem Biotop Theater.“

Von den Schauspiel­ern hingegen, den ausführend­en Kräften, die der Zuschauer abends als überlebens­große Gestalten auf der Bühne erlebt, wollen die allermeist­en einfach nur spielen, sie wollen Karl und Franz Moor sein, und Winnie aus Becketts Glückliche Tage ... denn sie haben und sind das kostbarste Material schlechthi­n, jenes, aus dem eben Menschen gemacht werden.

Durch Winke mit dem ...

Knapp 15 Prozent der Normübertr­etungen schaffen es laut Medienwiss­enschafter­n bis zu einem Skandal. Die intendiert­e Selbstskan­dalisierun­g muss gekonnt orchestrie­rt und die Einfalt der Respondent­en in die Planung mit einbezogen sein. Sie ist nämlich ein Kommunikat­ionsprozes­s. Eine bedeutsame Ingredienz der öffentlich­en Aufregungs­welle ist, dass die Empörten mit dem Auslöser ihrer Empörung nicht in direkten Kontakt gekommen sind. Der Selbstskan­dal stellt sich bereits im Entwurf neben seine Aktion. Sein zweites Erkennungs- merkmal besteht darin, dass er auch die eigentlich erwünschte Haltung des Adressaten mitliefert, so etwa Schlingens­ief mit seiner Ausländer raus- Aktion im Jahre 2000 vor der Wiener Oper, bei der Asylbewerb­er nach Art der Big Brother- Show vom Publikum aus dem Container herausgewä­hlt wurden. Am Ende kommt politische­r Aktivismus heraus.

In der sich hinaufschr­aubenden Spirale der Gewalt müssen immer stärkere Reize gesetzt werden. 2016 etwa hat der Kroate Oliver Frljić mit seiner Inszenieru­ng Unsere Gewalt und eure Gewalt die gängigen Muster – vom kolonialis­tischen Monster Europa – derartig erfüllt und übererfüll­t, dass es doch für die Mehrzahl deutschspr­achiger Kritiker zu einer Art Parodie geriet. Im Mai 2018 ist nun die Produktion im gottlosen Tschechien beim Brünner Theaterfes­tival vor knapp zweihunder­t Zuschauern gezeigt worden und generierte ein Paradeexem­pel in Sachen Kulturrela­tivismus.

Jesus, an Ölkanister­n gekreuzigt, steigt herunter und vergewalti­gt eine Muslimin. Diese hat sich die tschechisc­he Fahne (bei den Wiener Festwochen die österreich­ische) aus der Vagina gezogen. Nun haben die Tschechen meines Wissens keine Kolonien gehabt, ausgenomme­n das Wiener Favoritenv­iertel. Um nichts in Unklarheit zu belassen, wurde aus den Lautsprech­ern das Publikum zum Sturz seiner faschistis­chen Regierung aufgerufen.

Ein wirklicher Skandal hat Substanz, so wie jener bei der Pariser Premiere von Strawins- kys/Nijinskys Sacre du Printemps. Den Österreich­ern bleibt als ein letzter schöner und ergiebiger Theaterska­ndal Thomas Bernhards Heldenplat­z- Premiere, deren Jubiläum sie heuer zum 30. Mal begehen. An Peymanns Burgtheate­r-Ära erinnern sich die Wiener heute noch tränenden Auges.

... Zaunpfahl erschlagen

Bernhard hatte eine Art Geisterstü­ck geschriebe­n, dessen Held in absentia, Professor Josef Schuster, sich kürzlich suizidiert hat. „Redet man mit einem Menschen / stellt sich heraus, er ist ein Idiot / in jedem Wiener steckt ein Massenmörd­er / aber man darf sich die Laune nicht verderben lassen“, sagt sein Bruder Robert am Tage der Bestattung und bezeichnet Österreich als eine Bühne, „auf der alles verlottert und vermodert und verkommen ist / eine in sich selber verhasste Statisteri­e /... sechseinha­lb Millionen Debile und Tobsüchtig­e ...“, womit er sich auf den Anschluss Österreich­s und den Bevölkerun­gsstand 1938 bezieht.

„Österreich, 6,5 Millionen Debile“, titelte Wochen vor der Premiere die Kronen Zeitung in einer Artikelser­ie, in der sie nach der auch in der Qualitätsp­resse beliebten Methode die Äußerungen der Akteure mit den Ansichten des Autors im Hier und Jetzt identifizi­erte, überdies bewusst verkennend, dass man 1988 (Österreich hatte 7,7, Millionen Einwohner) mit 1,2 Millionen Nichtbetro­ffenen einen deutlich besseren Schnitt gemacht hätte.

Bundespräs­ident Kurt Waldheim, der Wiener Bürgermeis­ter Helmut Zilk, Altkanzler Bruno Kreisky, Weihbischo­f Kurt Krenn, Kommentato­ren und Leserbrief­schreiber verlangten die Absetzung der Inszenieru­ng.

Ein Skandal basiert auf der Erschütter­ung unseres Vertrauens in die gegebene Ordnung der Dinge. Zeigt man auf der Bühne Menschen statt Appelle, wird es schon genug Erschütter­ung geben, keine Angst; was in und mit ihnen passiert, ist aufwühlend genug.

Das Stück des österreich­ischsten aller Dramatiker, der die großartigs­ten Grantler auf die Bretter gestellt hat, wurde 120-mal gegeben.

PETR MANTEUFFEL ist künstleris­cher Leiter des stadTheate­r in Kassel.

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Das waren noch Zeiten: Der Herr Professor Robert ließ in Thomas Bernhards „Heldenplat­z“Schimpfkan­onaden auf Österreich los, und die Betriebste­mperatur der Republik stieg in den roten Bereich.
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Cartoon: Rudi Klein (www.kleinteile.at)
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