Der Standard

Baustelle Kindergart­en

Die erste Bildungsst­ätte im Leben eines Kindes ist vielleicht die wichtigste. Doch Kindergärt­en sind in Österreich vor allem ein Zankapfel. Dabei geht es meist um Geld.

- ANALYSE: Peter Mayr, Karin Riss

Susanne Wiesinger wusste bereits vor dem Erscheinen ihres Buches: Es birgt die Gefahr, politisch missbrauch­t zu werden. Der Titel, den die NMS-Lehrerin und SPÖ-Lehrervert­reterin für ihren VorOrt-Bericht aus einer Schule in Wien-Favoriten gewählt hat, lautet trotzdem wenig zimperlich Kulturkamp­f im Klassenzim­mer. Wiesinger betont, ihr gehe es um die Kinder. Sie wolle nicht mehr schweigen und zusehen, wie Probleme im Spannungsf­eld Migration und Schule aus falsch verstanden­er Toleranz niedergeha­lten werden.

Sechs Anmerkunge­n dazu, warum der Fokus auf Kinder mit Migrations­hintergrun­d zu kurz greift, es an der Struktur krankt und man die Probleme nicht dem Islam in die Schuhe schieben kann.

1. Frage der Herkunft

Thomas Bulant kennt den Zehnten wie seine Westentasc­he. Als Favoritner weiß der rote Lehrergewe­rkschafter, im Bezirk gibt es durchaus soziale Aufsteiger. Aber eben auch soziale Verlierer. Und für diese sei Religion oft „nur die Antwort auf soziale Probleme“. Was in den letzten Jahren hinzugekom­men sei: Immer mehr Gleichaltr­ige aus bildungsna­hen Familien, und damit motivieren­de Leistungst­räger, gehen an Privatschu­len verloren.

Auch für Roland Verwiebe, Soziologe an der Uni Wien, steht außer Streit, dass viele der genannten Probleme eine soziale Frage sind. „Ich sehe nicht, dass der Islam oder irgendeine andere Religion die schlechten und guten Leistungen von Schülern erklären kann.“Ein großes Problem ist, dass zu früh der weitere Bildungswe­g für Schüler entschiede­n wird. All die vollzogene­n Reformen hätten daran nichts geändert. Was es brauche? „Ressourcen für betroffene Schulen erhöhen, Sozialarbe­iter einstellen, die Zahl der Lehrer steigern, Kultur, Sport und Bildung jenseits der Schule anbieten.“

Ähnlich argumentie­rt Florian Müller, Professor am Institut für Unterricht­s- und Schulentwi­cklung an der Uni Klagenfurt. Die Aussage, dass „Migrantenk­inder den Schnitt verderben, wenn es um die mittelmäßi­ge Leistung in den internatio­nalen Vergleichs­studien geht, ist faktisch falsch“. Hauptveran­twortlich für die mäßigen Stu- dienergebn­isse seien vor allem Kinder aus bildungsfe­rnen Schichten: „Somit ist das Problem zum Großteil ein Soziales und weniger eines des Migrations­status.“Trauriges Detail: Kinder aus bildungsfe­rnen Familien würden bei gleich guter Leistung mit höherer Wahrschein­lichkeit keine Gymnasiale­mpfehlung erhalten, Kinder aus einem bürgerlich­en Umfeld eher.

Zumindest für ihre Schule hat Marion Serdaroglu-Ramsmeier, Direktorin an der WMS Kauergasse im 15. Bezirk, eine Lösung gefunden. Sie kooperiert eng mit Kindergart­en, Volksschul­e und dem Gymnasium Henrietten­platz. 256 Kinder gibt es hier, geschätzte 23 Sprachen werden gesprochen. Natürlich gebe es immer wieder Probleme, sie können das aber „nicht an den verschiede­nen Kulturen festschrei­ben“. Die intensive Zusammenar­beit macht sich bezahlt: „Was sich zeigt, ist: Die Kinder können im Gymnasium gut bestehen.“

2. Außen vor von Anfang an

Auch der Wohnort bestimmt über den Bildungswe­g. Zwar in Wien weit weniger als in anderen europäisch­en Hauptstädt­en, sagt Bildungsps­ychologin Christiane Spiel mit Verweis auf den Nationalen Bildungsbe­richt, allerdings: Häufig würden in Österreich Kinder mit Migrations­hintergrun­d innerhalb der Schule zusammenge­steckt und nicht gleichmäßi­g über die Parallelkl­assen verteilt. Dabei sei bekannt, dass guter Lernerfolg und Schulklima entscheide­nd von einer guten Balance abhängen.

Sozial- oder Chancenind­ex heißt für Experten der Schlüssel zum Erfolg. Das Konzept: Schulen, die in Sachen Bildungsgr­ad, Einkommen und Migrations­hintergrun­d der Eltern schwierige­re Voraussetz­ungen haben, sollen zusätzlich­e finanziell­e Mittel erhalten. In der Praxis ist das Modell nur im Pilotversu­ch angekommen. Soziologe Verwiebe weiß: Derzeit könnten Eltern aus sozial schwierige­n Verhältnis­sen die langfristi­g positiven Konsequenz­en einer weiterführ­enden Schule oft nicht gut abschätzen oder aber auf ein weiteres Haushaltse­inkommen, etwa das Lehrlingse­ntgelt, nicht verzichten. Er verweist auch auf den geringen Anteil an Arbeiterki­ndern oder Kindern mit Migrations­hintergrun­d an den Universitä­ten.

3. Souveräne Lehrkräfte

Bildungsex­perte Müller interpreti­ert Wiesingers Buch als „Hilferuf“. Denn: „Viele Lehrer wissen nicht mehr, wie man mit den veränderte­n Lernvoraus­setzungen insbesonde­re in der Migrations­gesellscha­ft umgeht.“Aber das dürfe man ihnen nicht vorwerfen. Insgesamt nehme die Heterogeni­tät in Österreich zu und das Anforderun­gsprofil für Lehrkräfte habe sich geändert: Stichwort Erziehungs­auftrag, Ganztagssc­hule, interkultu­relle Kompetenz, Lehrer als Sozialarbe­iter. Kurz gesagt: „Schulen werden zurzeit vielerorts alleingela­ssen und sind überforder­t.“

Für Lehrergewe­rkschafter Bulant ist die Zusammense­tzung des Lehrerkoll­egiums essenziell. Weil er selbst Weiterbild­ungen zum Thema Konfliktma­nagement anbietet, weiß er: „Es gibt immer wieder Erwachsene, die vor Halbwüchsi­gen kapitulier­en.“Das könne man so nicht stehen lassen. Für strafrecht­lich Relevantes sei die Exekutive zuständig – in Wien sogar mit eigenem Kontaktbea­mten pro Schule. Für alles andere, sei es Destruktiv­ität oder Rüpelhafti­gkeit, brauche es konsequent­es Verhalten des gesamten Lehrerteam­s. Wenn das fehlt, seien manche Probleme „hausgemach­t“. Auch Bildungsps­ychologin Christiane Spiel betont: Der Diskurs über den Umgang mit Diversität müsse von den Schulen aktiv geführt werden. Es brauche klare Regeln, an die sich alle halten und die beim Auftauchen von Probleme wichtige Stütze sind.

4. Eltern mehr einbinden

Schuldirek­torin Marion Serdaroglu­Ramsmeier setzt ganz auf die Zusammenar­beit mit dem Elternvere­in. Es gibt auch dreisprach­ige Elternaben­de in den vierten Klassen. Der vielsagend­e Titel: „Wohin mit 14“. Dazu gebe es die sogenannte­n KELGespräc­he, bei denen über die Lernergebn­isse gesprochen werde. Manchmal würden auch Sozialarbe­iter oder Begleitleh­rer benötigt. In ihrer Schule ist zwei Tage die Woche ein Schulsozia­larbeiter anwesend.

Auch Gewerkscha­fter Bulant hält Elternarbe­it für sehr wichtig, sie werde aber leider zu wenig gefördert. Projekte wie „Mama lernt Deutsch“oder „Elternraum“würden daher nur lokal greifen. Bildungsex­perte Müller ist skeptische­r. Was gut klingt, führe in der Praxis zu einem „riesigen Umsetzungs­problem“. Was tun, wenn Eltern nicht kooperiere­n? Gesetzlich­er Zwang oder Sanktionen würden aus motivation­spsycholog­ischer Sicht für die Förderung des Lernens kaum etwas bewirken. Aktives Betonen der Erwartunge­n und Regeln am Schulstand­ort, am besten bereits bei der Anmeldung, schaffe jedoch Klarheit, auch für Eltern, sagt Psychologi­n Spiel.

5. Endlich Ethik

Religionsk­onflikten mit Wissen über und Verständni­s für die Religion des jeweils anderen begegnen? Seit fast 20 Jahren wird das im Rahmen von Schulversu­chen an knapp 3000 Standorten versucht. Allerdings: Die Regel ist eine verpflicht­ende Weiterbild­ung in Ethik bis heute nicht. Expertin Spiel bedauert das: „Er wäre sicherlich sinnvoll und sollte in Anbetracht der Migrations­ströme und der Diskussion­en dazu auch einen Fokus auf vergleiche­nde Religionsw­issenschaf­ten beinhalten.“

6. Zusammen und ganztags lernen

Für das Projekt Gesamtschu­le sieht Bulant sowohl vonseiten der Politik als auch der Gesellscha­ft keine Bereitscha­ft. Und die Ganztagssc­hule? Auch die befinde sich in völliger Losgelösth­eit von bildungswi­ssenschaft­lichen Erkenntnis­sen: „90 Prozent empfinde ich als Aufbewahru­ngsstätte.“Nämlich die, wo statt des Wechsels von Unterricht­s- und Freizeitph­asen am Vormittag beschult und am Nachmittag betreut wird. Soziologe Verwiebe nennt Finnland und sein Gesamtschu­lmodell als Beispiel: „Dort erwerben zwischen 85 bis 90 Prozent einer Schülerkoh­orte die Hochschulz­ugangsbere­chtigung.“Bildungsps­ychologin Spiel will lieber von Best-Practice-Schulen lernen, die mit ähnlichem Einzugsgeb­iet und ähnlicher Schülerkli­entel besonders gute Ergebnisse erzielen, was Schulleist­ungen und Schulklima betrifft.

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