Der Standard

Aquarius will kein politische­r Spielball sein

Das Rettungssc­hiff Aquarius befindet sich auf dem Weg in die libysche Such- und Rettungszo­ne. Doch an Bord weiß man, dass man nicht die Lösung für das Problem der Toten im Mittelmeer ist.

- REPORTAGE: Bianca Blei

Plötzlich war es still. Wurde kurz vor dem Auslaufen des Rettungssc­hiffs Aquarius aus Marseille an Bord noch angeregt geplaudert, verstummte­n alle, als der Hafen und die Lichter der Stadt immer kleiner wurden. Die Retter der Hilfsorgan­isation SOS Méditerran­ée und die Helfer von Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières, MSF) blickten in die Ferne und sprachen nachher von einem „intimen Moment“– aufgeregt und besorgt ob der Einsätze, die sie erwarten, und der Menschen, denen sie begegnen werden.

Die Stille an Bord wurde erst wieder durchbroch­en, als die Motoren der beiden Rettungsbo­ote Easy 1 und Easy 2 aufröhrten. Die Aquarius befindet sich derzeit auf dem Weg in die „Such- und Rettungszo­ne“vor der libyschen Küste, für die seit kurzem die libysche Küstenwach­e verantwort­lich ist. Das Schiff soll am Dienstagab­end eintreffen, vor der tunesische­n Küste beginnt die Suche nach in Seenot geratenen Menschen. Die Crew übt vorab mögliche Szenarien: Die Fahrer der Boote manövriere­n durch das ruhige Mittelmeer. Gleichzeit­ig trainiert das Personal von MSF an Deck die Übernahme bewusstlos­er Personen ohne Atmung in einer flexiblen Trage.

Der Wunsch nach dem Ende

„Unsere Reise muss ein Ende haben“, betont Alessandro Porro von SOS Méditerran­ée. Der 38-jährige Italiener war 20 Jahre Notfallsan­itäter und ist nun Techniker an Bord. Für ihn ist die Aquarius nicht die Lösung, sondern nur „ein Pflaster auf einer offenen Wunde“. Für Porro wäre es Aufgabe der Staaten, Menschen aus Seenot zu retten. Er verweist auf die einjährige EU-Operation „Mare Nostrum“, als von 2013 bis 2014 speziell ausgerüste­te Such- und Rettungssc­hiffe im Mittelmeer unterwegs waren. Dass die Operation durch den Einsatz „Triton“der EU-Grenzschut­zeinheit Frontex ersetzt wurde, kritisiert er: „Frontex ist für Rettungsmi­ssionen nicht ausgerüste­t.“

Ähnlich argumentie­rt Aloys Vimard, MSF-Projektkoo­rdinator an Bord: „MSF ist in 72 Ländern im Einsatz, und in Wahrheit sind wir nicht die Lösung, sondern die Staaten müssten Lösungen finden.“Der Vorschlag des österreich­ischen Innenminis­ters Herbert Kickl (FPÖ), Asylanträg­e an Bord der Rettungssc­hiffe prüfen zu lassen, ist für Vimard „absurd“. Für ihn würde das bedeuten, dass man Menschen animiere, die gefährlich­e Reise übers zentrale Mittelmeer auf sich zu nehmen, um Asylschutz zu erhalten. Er verweist auf die Aussage des tschechisc­hen Premiermin­isters Andrej Babiš, wonach Tschechien umgerechne­t rund 9,4 Millionen Euro zur Unterstütz­ung der libyschen Küstenwach­e bereitgest­ellt hat: „Wir wissen von den Zuständen in Libyen“, sagt Vimard: „Folter, Sklavenmär­kte, Erpressung­en. Man sollte die Lage im Land stabilisie­ren und verbessern, damit die Leute nicht flüchten.“Und: „Europa zahlt Millionen Euro, um das Problem nicht sehen oder hören zu müssen.“

Dass die Aquarius von der europäisch­en Politik und Öffentlich­keit als „Fähre“oder „Kreuzfahrt­schiff“in die EU gesehen wird, kann Edouard Courcelle, MSF-Logistiker an Bord, nicht verstehen. „Wir sind alle keine Entscheidu­ngsträger“, sagt er: „Wir wünschen uns vielleicht ein besseres Asylsystem, aber wir sind Retter und machen unseren Job wie jeder andere Mensch auch.“Für ihn sind Hilfsorgan­isationen ein „Regulativ“, das agieren kann, wenn die Politik aufgrund diplomatis­cher Verstricku­ngen blockiert ist. „Die meisten Seenotrett­ungen im zentralen Mittelmeer werden von Armeeund Küstenwach­eschiffen durchgefüh­rt.“

Berührende Dokumentat­ion

Die Aufgabe von SOS Méditerran­ée und MSF ist aber nicht nur die Rettung und medizinisc­he Betreuung der Menschen in Seenot, sondern auch die Dokumentat­ion der Aussagen der Geretteten. In Ordnern in der Kajüte des Projektkoo­rdinators werden die Erlebnisse der Menschen an Bord so, wie sie diese den Helfern erzählen, festgehalt­en. Die meisten Erinnerung­en beginnen mit Gewalt in Libyen. Dabei kommt es nicht darauf an, woher die Menschen stammen. Es sind Aufzeichnu­ngen über Vergewalti- gungen und Zwangspros­titution von Frauen oder Jugendlich­en, die verschlepp­t und gefoltert wurden, um Geld bei ihren Eltern zu erpressen. „Wir sind nicht diejenigen, die über den Ausgang des Asylverfah­rens urteilen können“, wiederholt Vimard.

Man könne diese Leute nicht davon abhalten zu fliehen, ist sich Porro sicher. Er vergleicht es mit einem Beispiel aus seinem Heimatland Italien. Im Piemont habe es laut Porro nie Olivenbäum­e gegeben: Durch die steigende Temperatur würden sie nun in dieser Region wachsen: „Wenn Bäume in den Norden wandern, wer soll dann die Menschen stoppen?“

An die rechtliche­n Vorgaben halten

Von politische­n Kämpfen rund um die Aquarius haben alle an Bord genug. Die Crew wolle sich nicht zum „Spielball der Politik“oder „Sündenbock“machen lassen, heißt es in vielen Gesprächen. Laut Vimard wolle man sich strikt an die rechtliche­n Vorgaben halten, um keine Angriffsfl­äche zu bieten. Dazu gehörte auch die Kontaktauf­nahme mit der libyschen Seenotrett­ungsstelle im August nach einer Rettung. Oder dass die libysche Küstenwach­e Menschen in Seenot aufnahm, während die Aquarius zuschauen musste. Ob es wieder zu einer Pattsituat­ion zwischen der Aquarius und den EU-Staaten kommen werde, wagt Vimard nicht zu prophezeie­n. Man sei auf alles vorbereite­t. Persönlich würde Vimard Kritiker wie den italienisc­hen Innenminis­ter Matteo Salvini gerne zu einer Mission mitnehmen. „Ich verstehe, dass Leute keine Ahnung haben, was wir machen, wenn sie es selbst nicht gesehen haben“, so der Projektkoo­rdinator.

Seit dem Ablegen ist das Schiff schneller geworden: Die Aquarius hat den dritten ihrer vier Motoren zugeschalt­et, um rascher in die Rettungszo­ne vor Libyen zu gelangen. Flugzeuge der Hilfsorgan­isation Pilotes Volontaire­s haben am Sonntag ein Schlauchbo­ot mit rund 100 Personen in Seenot entdeckt und die maritime Rettungsko­ordination­sstelle in Rom alarmiert. Die Italiener verwiesen an die libysche Behörde, laut den Piloten soll die libysche Küstenwach­e das Boot nach Stunden geborgen haben. Was mit den Menschen passiert ist, ist ungewiss.

STANDARD- Redakteuri­n Bianca Blei befindet sich auf Einladung von Ärzte ohne Grenzen an Bord der Aquarius, die Kosten trägt der STANDARD.

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