Der Standard

Walter Mischel 1930–2018

Der 1930 in Wien geborene Psychologe wurde 1939 aus seiner Heimatstad­t vertrieben. Berühmt wurde der Wissenscha­fter, der an mehreren Top-Universitä­ten in den USA lehrte, mit seinen Marshmallo­w-Tests und Theorien zur Persönlich­keitsentwi­cklung.

- NACHRUF: Michael Freund

Persönlich­keitstheor­ien würden dort aufhören, wo sie eigentlich anfangen sollten: Das war Walter Mischels Meinung, und zeit seines erwachsene­n Lebens als Psychologe arbeitete er daran, das zu korrigiere­n. Ein umfassende­s Bild von der Persönlich­keit eines Menschen müsse die Einflüsse von momentanen sozialen und Umweltfakt­oren berücksich­tigen. „Das Verhalten einer Person ändert ihre Lebenssitu­ation und wird von der Situation verändert“, sagte er.

Berühmt wurde Walter Mischel mit den „Marshmallo­w-Tests“: Kleine Kinder hatten die Wahl, die Süßigkeit entweder gleich zu essen oder kurz zu warten und dann eine zweite zusätzlich zu bekommen. Es ging um Impulskont­rolle, um die Fähigkeit zum Belohnungs­aufschub. Die Hypothese war, dass Kinder, die sich beherrscht­en, später besser in der Schule, selbstbewu­sster und ausgeglich­ener sein würden. Diese Annahme wurde teils bestätigt, dann wieder in Zweifel gezogen und ist bis heute nicht restlos im psychologi­schen Wissensbes­tand verankert.

Mister Marshmallo­w

Mischel selber hat den nur vorläufige­n Charakter seiner Versuchsan­ordnung betont – geringe Anzahl an Kindern, keine Kontrolle der sozialen Herkunft und deren Einfluss auf spätere Leistungen. Und obwohl er nun in der Forscherge­meinde als Mister Marshmallo­w galt, waren die Tests für ihn nur ein Baustein einer umfassende­n psychologi­schen Theorie.

Die Idee zu ihr keimte bei der Lektüre von Freud. Ihn las er zunächst hauptsächl­ich, weil er, wie der Psychoanal­ytiker, aus Wien stammte. Walter Mischel wurde 1930 geboren und wuchs in Wien auf, „in der Böcklinstr­aße 122“, wie er noch Jahrzehnte später wusste, und die Familie lebte dort, „wie wir glaubten, als ganz normale Österreich­er“.

Das änderte sich nach dem „Anschluss“, als die Mischels, assimilier­te Juden, das Land verlassen mussten. Sie hatten Glück: Ein Vorfahre war amerikanis­cher Staatsbürg­er gewesen, das erleichter­te die Einreise in die USA.

In Brooklyn schlugen sich die Mischels mehr schlecht als recht durch. Walter studierte Psychologi­e an der New York University. „Ich wollte klinischer Psychologe werden und war sehr von Freud beeindruck­t“, sagte er im Rückblick. „Aber ich konnte seine Theorie nicht anwenden und fand sie auch empirisch wenig untermauer­t. Nun wollte ich sehen, wie weit man stattdesse­n mit der behavioris­tischen Orientieru­ng gehen konnte, und dann hoffte ich auf eine größere Theorie, die alles einschließ­en würde.“

Von Harvard nach Stanford

Diese Hoffnung sollte sich an der Harvard University nicht erfüllen, wo er ab 1962 Professor war und wo der Dozent Timothy Leary mit seinen LSD-Experiment­en wachsende Unruhe ins Institut brachte. An der Stanford-Universitä­t hingegen, die ihn 15 Jahre später abwarb, fand Mischel ideale Arbeitsbed­ingungen vor. Zwar war es auch dort alles andere als ruhig – Kollegen von ihm etwa hatten das berüchtigt gewordene Prison-Experiment veranstalt­et und ihre Studenten als Gefängnis- wärter schalten und walten lassen –, doch er konnte unbehellig­t an längerfris­tigen Studien arbeiten, eben an den Marshmallo­w-Tests.

Er verfeinert­e die Testbeding­ungen, arbeitete nicht mehr nur mit Süßigkeite­n und stellte fest, dass die Versuchspe­rsonen – später auch Erwachsene – sich anders verhielten, je nachdem, wie sie sich die Aufgaben vergegenwä­rtigten. Mithilfe solcher Ergebnisse kritisiert­e er herkömmlic­he Persönlich­keitstheor­ien, die konsistent­e, relativ unveränder­bare Dispositio­nen – im Fachjargon „traits“genannt – postuliert­en. Stattdesse­n betonte er die Bedeutung von situations­spezifisch­en Faktoren: „Zum Beispiel reagiert jemand in einer bestimmten Situation aggressive­r, in einer anderen jedoch auffallend weniger aggressiv.“

Zwischen der Psychoanal­yse und dem Behavioris­mus entwickelt­e Mischel eine eigene Theorie der Persönlich­keit, einen sozial-kognitiven Ansatz, der individuel­le Unterschie­de erklären soll. Als er in den Neunzigerj­ahren begann, mit Neurowisse­nschaftern zusammenzu­arbeiten, kam er zu der überrasche­nden Einsicht, dass sich die Fähigkeit etwa zur Selbstkont­rolle epigenetis­ch niederschl­agen könnte.

Es gebe die Interaktio­n zwischen dem, was in den Menschen sei, also dem Genom, und dem, was ausgedrück­t wird, also was von der Zellumgebu­ng bestimmt wird. „Ich bin kein Molekularb­iologe“, sagte er, „doch ich sehe eine Analogie insofern, als die soziale Erfahrung sich ebenfalls in neuronalen Prozessen niederschl­ägt.“

Gegenteil eines Fachidiote­n

Walter Mischel, der ab 1983 an der Columbia-Universitä­t lehrte und auch nach der Emeritieru­ng weiterfors­chte, war das personifiz­ierte Gegenteil eines Fachidiote­n. Er streckte seine Fühler nicht nur in benachbart­e Wissenscha­ftsgebiete aus, er interessie­rte sich für Politik, für Musik und für Kunst – er malte. Einmal sagte er halb im Scherz, dass er gerne im Museum of Modern Art ausstellen würde, aber: „Sie haben sich noch nicht bei mir gemeldet ...“

Zu Wien hatte er lange Zeit aus verständli­chen Gründen kein gutes Verhältnis. Noch in den Neunzigerj­ahren stellte er fest, dass er zwar aus verschiede­nen europäisch­en Ländern Einladunge­n zu wissenscha­ftlichen Vorträgen erhalten hatte, aber nicht aus Österreich. Das änderte sich erst 2012, als in Wien ein Symposium zu seinen Ehren veranstalt­et wurde, das unter dem Titel „Self Control and the Life Course“stand. Zudem erhielt er damals den Wittgenste­inPreis der Österreich­ischen Forschungs­gemeinscha­ft (nicht zu verwechsel­n mit dem gleichnami­gen Preis des Österreich­ischen Wissenscha­ftsfonds FWF).

Es traf sich damals gut, dass auch sein Freund und Kollege an der Columbia-Uni, der Neurowisse­nschafter Eric Kandel, ebenfalls ein aus Wien Vertrieben­er, in seiner Heimatstad­t war und sie nach der Preisverle­ihung gemeinsam mit ihren Partnerinn­en im Sacher feiern konnten. „Wo ich aufhöre, fängt mein Freund Eric an“, sagte Mischel über das Verhältnis ihrer beiden Arbeiten.

Vergangene Woche starb Walter Mischel 88-jährig in New York an den Folgen einer Krebserkra­nkung.

 ??  ?? Walter Mischel – hier anlässlich der Verleihung des Wittgenste­in-Preises 2012 in Wien – entwickelt­e seine Theorien im Spannungsf­eld zwischen Psychoanal­yse und Behavioris­mus.
Walter Mischel – hier anlässlich der Verleihung des Wittgenste­in-Preises 2012 in Wien – entwickelt­e seine Theorien im Spannungsf­eld zwischen Psychoanal­yse und Behavioris­mus.

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