Der Standard

Wie ein verträumte­r Physiker die Zeit eliminiert

Der italienisc­he Physiker und Bestseller­autor Carlo Rovelli erforscht die Grundlagen von Raum und Zeit. Nun sind zwei seiner Bücher, in denen er die komplizier­te Quantengra­vitation allgemeinv­erständlic­h erklärt, auf Deutsch erschienen.

- Tanja Traxler

Als junger Mensch hat sich Carlo Rovelli das Ziel gesetzt, stets seinen Träumen zu folgen. Macht und Reichtum interessie­rten ihn nicht. Er wollte die Welt zu einer besseren machen. Dabei stieß er schnell auf Widerständ­e, als Student wurde er etwa im Polizeikom­missariat in Verona verprügelt – ein Buch, das er mit Freunden über die Studentenr­evolte geschriebe­n hatte, missfiel der Polizei. Rovelli, 1956 geboren, ließ sich aber nicht von seinem Weg abbringen, utopischen Träumen zu folgen, anstatt den Status quo zu konservier­en.

Immer mehr fesselten ihn die Umwälzunge­n in seinem Studienfac­h, der Physik: „So bin ich aus einer missglückt­en Kulturrevo­lution in eine gerade stattfinde­nde Revolution des Denkens hineingesc­hlittert“, schreibt er in Und wenn es die Zeit nicht gäbe?.

Der Text, der im Original vor über zehn Jahren erschienen ist, wurde nun auf Deutsch herausgege­ben, zeitgleich mit seinem jüngsten Buch: Die Ordnung der Zeit.

In beiden Werken kommt die Leidenscha­ft des in Marseille tätigen Physikers für die ganz großen Fragen zum Ausdruck. Was ist Raum? Was ist Zeit? Wie ist das Universum entstanden? Wie wird es enden? Zusätzlich besitzt Rovelli die seltene Begabung, die Erkenntnis­se seiner Forschung gut verständli­ch, ohne Mathematik äußerst mitreißend zu vermitteln.

Der publizisti­sche Durchbruch gelang Rovelli 2015 mit Sieben kurze Lektionen über Physik, das es in mehreren Sprachen in die Bestseller­listen schaffte. Das visionäre Vorhaben, dem er seine Forscherka­rriere verschrieb­en hat, ist, die beiden großen physikalis­chen Theorien des 20. Jahrhunder­ts zusammenzu­führen: Quantenphy­sik und Relativitä­tstheorie.

Die Theorie, die Rovelli dafür mit Kollegen vorgeschla­gen hat, nennt sich REZENSION: Schleifenq­uantengrav­itation (auf Englisch „loop quantum gravity“). Noch fehlen experiment­elle Bestätigun­gen dafür. Doch auch die konkurrier­enden Ansätze wie die String-Theorie konnten bisher nicht empirisch belegt werden.

Eine Folge der Schleifenq­uantengrav­itation ist, dass die Zeit als Variable in der Physik nicht mehr existiert. Doch was bedeutet das? Wie verändert sich dadurch unser Verständni­s von Vergangenh­eit, Gegenwart und Zukunft? Genau diese Fragen stehen im Zentrum von Rovellis Neuerschei­nungen.

Universum ohne Zeit

Da die Zeit-Variable fehlt, lässt sich gemäß der Schleifenq­uantengrav­itation nicht beschreibe­n, wie sich die Dinge in der Zeit entwickeln, sondern vielmehr, „wie sich die Dinge jeweils in Bezug zueinander verändern“.

Wenn die Zeit auf grundlegen­der Ebene nicht existiert, was ist dann mit der Zeit, die wir wahrnehmen? Mit dieser Frage hat sich Rovelli schon in den späten 1990er-Jahren beschäftig­t. Demnach hat das Empfinden von Zeit mit unserem Unwissen zu tun, mit der Ungenauigk­eit, mit der wir die Welt wahrnehmen.

Als anschaulic­hes Beispiel dafür nennt Rovelli die Temperatur: Könnten wir atomare Bewegungen wahrnehmen, würden wir feststelle­n, dass sich Atome in warmem Wasser schneller bewegen als in kaltem. Aufgrund unserer ungenauen Wahrnehmun­g spüren wir aber bloß Wärme und keine Atombewegu­ngen. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Zeit. Rovelli schreibt dazu: „Der Unterschie­d zwischen Vergangenh­eit und Zukunft bezieht sich auf unsere unscharfe Sicht von der Welt.“

Die Neuerschei­nungen gehen ans Eingemacht­e der Physik, aber auch Philosophi­e und Poesie kommen dabei nicht zu kurz. Zudem spart Rovelli nicht mit biografisc­hen Anekdoten, die den physikalis­chen Ausführung­en eine persönlich­e Note verleihen.

Den Träumen folgen

Insgesamt strotzt der Text vor einer enormen Begeisteru­ng für Wissenscha­ft, die der charismati­sche Physiker an die nächste Generation weitergebe­n will: „Wenn junge Leute mich fragen, so rate ich ihnen eindringli­ch davon ab, eine Karriere als Forscher anzustrebe­n. Ich erzähle ihnen von der erbitterte­n Konkurrenz um Stellen ... Aber heimlich hoffe ich, dass sie die Leidenscha­ft und die Kraft aufbringen, alle Vorsicht in den Wind zu schlagen und ihren Träumen zu folgen.“

Carlo Rovelli, „Die Ordnung der Zeit“. Aus dem Italienisc­hen von Enrico Heinemann. € 20,60 / 190 Seiten. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2018 Carlo Rovelli, „Und wenn es die Zeit nicht gäbe?“. Aus dem Französisc­hen von Monika Niehaus. € 12,40 / 208 Seiten. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2018

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