Der Standard

Das Herz eines Boxers ist groß

Paul Simon tritt mit 76 Jahren von der Bühne ab und veröffentl­icht das Album „In The Blue Light“, eine edle Neudeutung alter Songs.

- Christian Schachinge­r

D as Leben steckt zwar voller Überraschu­ngen. Wirklich sicher kann man sich aber nicht sein, dass die Musik von Simon & Garfunkel heute bei jungen Menschen noch aus dem Handy quäkt. Möglicherw­eise erfährt sie bei Lagerfeuer­abenden der katholisch­en Jungschar oder der Pfadfinder noch eine regelmäßig­e Aufführung­spraxis. Immerhin kann man das „Lei-la-lei!!!“aus dem Lied The Boxer ebenso beherzt brüllen wie Textzeilen aus dem zeitlos zivilisati­onskritisc­hen Opus magnum The Sound of

Silence von 1964/65: „And the people bowed and prayed / To the neon god they made …“

Paul Simon selbst ist jedenfalls die Hälfte seines Lebens froh, dass er seine berühmtest­en Lieder im Zeichen des zumindest klanglich weichen Folkrocks während der

letzten Jahrzehnte höchstens noch ab und zu für sehr viel Geld gemeinsam mit Lebensfein­d Art Garfunkel singen musste. Warum sich die beiden musikalisc­hen New Yorker Parade-Softies jetzt genau nie wirklich grün waren, kann uns im Wesentlich­en egal sein. Musik baut Brücken, man muss ja nicht selbst rübergehen. Zwei wie Katz und Maus

Bevor sie sich Simon & Garfunkel nannten und in den späten 1960er-Jahren ähnlich viele warme Semmeln wie die Beatles verkauften, traten sie jedenfalls bezeichnen­derweise als Tom & Jerry auf. Kenner der sadomasoch­istischen Zeichentri­ckfilmszen­e kennen sich aus: Zuschauen ist meist lustiger als mitmachen.

Solo fühlte sich Songwriter Paul Simon jedenfalls immer woh- ler. Während der letzten Jahrzehnte folgten weltmusika­lische Erkundunge­n Afrikas, Südamerika­s, der Karibik oder vor der eigenen Haustür im US-Süden. Alben wie Still Crazy After All These Years oder wie das Meisterwer­k Grace

land von 1986 zählen längst zum Kanon der Popgeschic­hte.

Derzeit befindet sich der große kleine Mann auf einer lange angekündig­ten Abschiedst­ournee. Das Alter, das Fliegen, der Zimmerserv­ice. Am 22. September wird Simon im New Yorker Stadtteil Queens, in dem er aufgewachs­en ist, nach über 60 Jahren von der Bühne abtreten.

Zuvor hat der 76-jährige Mitentdeck­er der Pop-DNA noch ein hübsches Abschiedsg­eschenk veröffentl­icht. Das Album In The

Blue Light bietet nicht nur hochkaräti­ge Musiker wie Gitarrist Bill Frisell, Trompeter Wynton Marsalis (der Teurere) oder Arrangeur Bryce Dessner von The National. Simon hat es sich darauf auch zur Aufgabe gemacht, abseits bekannter Titel wie You Can Call Me Al oder 50 Ways To Leave Your Lover bis ins Jahr 1973 zurückreic­hende, ( vom Publikum) stiefmütte­rlich behandelte, bereits auf diversen Alben herauf von There Goes

Rhymin’ Simon bis zu So Beautiful Or So What von 2011 mitunter radikal harmonisch, rhythmisch und textlich zu bearbeiten, aus seiner Sicht zu vollenden. Lieber bestmöglic­h als Best-of. Eine rundum glückliche, nein: eine kluge Entscheidu­ng. New-Orleans-Rumtata

Neben sanftmütig­en Edelklänge­n zwischen Kammermusi­k, Coffeetabl­e-Pop, ein klein we-

nig New-Orleans-Rumtata und schließlic­h auch ECM-Jazz für SKlasse-Fahrer beeindruck­t dabei in Liedern wie One Man’s Ceiling Is Another Man’s Floor, René and Georgette Magritte With Their Dog After The War oder Questions For The Angels vor allem Paul Simons noch immer fast glockenhel­le Jünglingss­timme. Engel am Mikrofon

Ein Engel steht am Mikrofon. Nur den Namen Art Garfunkel sollte man in seiner Gegenwart lieber nicht erwähnen. Da kann ihm heute noch das Geimpfte aufgehen, dem alten Zausel. In den Siebziger- und Achtzigerj­ahren war das Hören von Simon & Garfunkel übrigens gar nicht soo cool. Aber das Problem hatte damals auch ein gewisser Leonard Cohen. Und? Eben.

 ??  ?? Entdeckte einst die Pop-DNA mit und will in Bälde nie mehr live auftreten müssen: Paul Simon, Meister sanfter Edelklänge. Nur auf Art Garfunkel sprechen Sie ihn bitte nicht an!
Entdeckte einst die Pop-DNA mit und will in Bälde nie mehr live auftreten müssen: Paul Simon, Meister sanfter Edelklänge. Nur auf Art Garfunkel sprechen Sie ihn bitte nicht an!

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