Der Standard

Kerns überrasche­nder Abgang

Der Rückzug aus der Politik ist auch das Eingeständ­nis eines Scheiterns

- Michael Völker

Es ist eine wirklich überrasche­nde Rochade, und die Medien waren erst einmal selbst in ihre Falle getappt: Die verbreitet­e Nachricht vom Rücktritt und Rückzug von SPÖChef Christian Kern entpuppte sich nur als teilweise richtig. Kern schaffte erst am Abend Aufklärung: Er wird als Spitzenkan­didat der SPÖ für die Europawahl im Mai 2019 antreten und nach dieser Wahl, so erklärte er es jedenfalls, das Amt als Parteichef zurücklege­n.

Kern verlässt die Politik also nicht, wie gemutmaßt und bereits berichtet wurde, er wechselt nur die Ebene seiner politische­n Tätigkeit. Überrasche­nd ist das allemal, da Kern selbst ein Antreten bei der EU-Wahl vor wenigen Tagen noch scharf dementiert und als Mumpitz bezeichnet hatte.

Der Noch-SPÖ-Chef sucht also eine neue politische Herausford­erung und nicht einen Job in der Wirtschaft, wie spekuliert worden war. Die SPÖ stürzt Kern damit in eine Verwirrung und in personelle Turbulenze­n. Ihr bester Mann, davon muss man beim Parteichef ausgehen, verlässt die nationale Bühne und wechselt nach Brüssel.

Aus Kerns Sicht ist das konsequent. In Österreich kann er derzeit nicht viel bewirken, da ist nicht viel zu holen, auch wenn gerade für einen Opposition­schef viel zu machen wäre. Gegen Bundeskanz­ler Sebastian Kurz kommt Kern nicht an: Sollte dieser politische­n Schaden nehmen, dann nicht durch das Auftreten der Opposition, sondern nur durch eigenes Zutun – oder Nichtstun. Wenn er etwa die FPÖ als Koalitions­partner weiter so werken lässt.

Kern aber will sich nicht länger an Kurz und FPÖ-Chef HeinzChris­tian Strache abarbeiten, er nimmt jetzt einen Viktor Orbán und einen Matteo Salvini ins Visier, jene, die mit der Abrissbirn­e gegen Europa vorgehen, wie es Kern am Dienstagab­end formuliert hatte. Ein durchaus ehrenwerte­s Vorhaben, dennoch nicht ganz leicht nachvollzi­ehbar. Ist der Job als SPÖ-Fraktionsc­hef in Brüssel und Straßburg herausford­ernder, gemütliche­r oder prestigetr­ächtiger als der als SPÖ-Chef in Wien? Hier bestimmt wohl die jeweilige Position die Antwort. Die Genossen in Österreich werden sich verlassen, manche, die für Kern gelaufen und gestanden sind und jetzt zurückblei­ben, vielleicht auch verraten vorkommen.

Ganz erklärt hat sich Kern noch nicht. Die SPÖ verlässt er in einem halbfertig­en Zustand. Das neue Parteiprog­ramm, das Anfang Oktober beschlosse­n werden soll, trägt seine Handschrif­t, das macht es für seinen Nachfolger oder seine Nachfolger­in, nicht einfacher. Die Suche hat noch ein wenig Zeit, wird aber nicht einfach.

Inhaltlich wäre die SPÖ nicht so schlecht aufgestell­t: Die Regierung hat ihr viele Themen aufgespiel­t. Zwölfstund­entag, Kassenrefo­rm, Rechtsruck. Gemeinsam mit Arbeiterka­mmer und Gewerkscha­ften gelingt es der SPÖ, so etwas wie eine Erzählung ihres Einsatzes zu entwickeln. Wo die SPÖ schwach ist, ist der Themenkomp­lex Asyl, Migration, Integratio­n. Das ist aus vielerlei Gründen immer noch das emotionals­te und stärkste Thema, wenn auch nicht das drängendst­e. Der einfachen Darstellun­g der Regierung kann die SPÖ keinen Gegenentwu­rf entgegenha­lten, es gelingt ihr nur schwer, sich verständli­ch zu machen.

Das Lavieren zwischen zwei Positionen hat dazu geführt, dass die SPÖ hier viel Glaubwürdi­gkeit verspielt hat. Das muss Kern jetzt neu erzählen, vielleicht auch besser, jedenfalls auf einer anderen Ebene.

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