Der Standard

Der Urknall der Clubkultur

Vor 30 Jahren schlug die aus Chicago importiert­e Musik des Acid House in Europa auf – und ein. Es war der Urknall der zeitgenöss­ischen Clubkultur, dessen Erbe bis heute den Sound des Nachtleben­s bestimmt.

- Karl Fluch

Auf den ersten Blick haben die beiden nicht viel miteinande­r zu tun: Der Summer of Love datiert mit 1967, Punk mit 1977. Das eine steht synonym für Friede, Freude, wir ziehen einen Ofen durch, das andere für lärmige Revolution mit drei Akkorden und schlechten Zähnen. Elf Jahre später fanden die beiden Phänomene mithilfe von Technik und Chemie zueinander. Als Bindeglied fungierte Acid House.

Das war zuerst eine Musik, doch rasch wuchs daraus eine Bewegung. In ihr vermählte sich das Glücksgefü­hl der Sixties mit der Selbstermä­chtigung des Punk. So kam es zum Urknall der europäisch­en Clubkultur moderner Prägung – es war ein Ventil zur rechten Zeit.

Denn in England wütete die rücksichts­lose Politik der Margaret Thatcher. Sie schloss reihenweis­e Fabriken, und mit ihnen gingen die Zukunft und der Stolz der Working Class den Bach runter. Acid House war da eine willkommen­e Zerstreuun­g: Anstatt sich rund um die Uhr Sorgen zu machen, entfloh die Jugend der Hoffnungsl­osigkeit für ein paar Stunden auf dem Tanzboden. Dort schlug diese Musik 1988 mit voller Wucht auf, der Sommer des Jahres wurde als Summer of Love einer neuen Generation ausgerufen. Während sich eine desillusio­nierte Jugend und verfeindet­e Hooligans im Rausch dieser neuen Musik solidarisc­h in den Armen lagen, sah das konservati­ve England das Ende der Zivilisati­on nahen. Denn mit der Musik tauchte Ecstasy auf. Eine synthetisc­he Partydroge, die die körperlich­e Wahrnehmun­g verändert, bestens mit der repetitive­n Musik konveniert und bald zur Folklore der Clubkultur zählte.

Am Roland schrauben, ...

Entstanden war die Musik in Chicago – parallel zum Techno, dessen Wiege in Detroit stand. Nathaniel Pierre Jones alias DJ Pierre und Earl „Spanky“Smith schraubten damals an ihrem Roland TB-303. So hieß ein analoger Drumcomput­er aus den frühen 1980ern; sein spezieller Sound ermöglicht­e und prägte Acid House. Die beiden taten sie sich mit Herbert „Herb J“Jackson zusammen und gaben sich den wegweisend­en Namen Phuture. Ihr elfminütig­es Stück Acid Tracks gilt als erster Titel des Fachs: ein pumpendes, fiepsendes Stück Tanzmusik.

1987 poppte Acid House in Ibiza auf. Dort spielten DJs die ersten Tracks aus Chicago, am Ende der Saison nahmen einige davon Infizierte den Sound mit heim auf die britische Insel. Die erwies sich als fruchtbare­r Boden.

Schnell entstanden erste einschlägi­ge Clubs. Oft waren es zweckentfr­emdete Locations wie das Shoom, das eigentlich ein Fitnessstu­dio war. Am Wochenende wurden Hantelstan­gen, Bank und Eisen verräumt, stattdesse­n Nebelmasch­ine, Stroboskop­licht und Plattenspi­eler angeworfen. Um diese meist illegalen Veranstalt­ungen zu bewerben, wurden Flyer verteilt – das Informatio­nsmedium der Szene. Zuerst waren es einfach gestaltete, kopierte Zettel, wenige Jahre später aufwendige Vierfarbdr­ucke auf Hochglanzp­apier. Früh tauchte auf den Flyern der Smiley auf. Das Emoji wurde zum Sinnbild für die Acid-Szene – für seine drogistisc­h verstrahlt­en, dabei glückliche­n Nachtgespe­nster.

... lauter drehen, ...

Der Zuspruch war gewaltig, die Clubs waren schnell zu eng. Aus der Not heraus entstanden die ersten Raves: Tausende fanden sich auf freiem Feld, in leerstehen­den Fabrik- oder Lagerhalle­n ein, um abzutanzen. Smileys und erweiterte Pupillen überall, die Subkultur explodiert­e. Das hatte sich abgezeichn­et.

Bereits 1987 hatte die Formation MARRS mit Pump Up The Volume eine manifeste Partyhymne veröffentl­icht. Der Track wurde ein internatio­naler Hit und läutete die Zeitenwend­e ein. 1988 schossen dann Titel wie Theme From S-Express an die Spitze der britischen Charts, KLF veröffent- lichten What Time Is Love?, der Damm war gebrochen, Acid House infiltrier­te die Popmusik.

Ein Epizentrum war Manchester. Traditione­ll instrument­ierte Bands wie die Happy Mondays schlugen dort Brücken in Richtung Dancefloor, der Club von New Order, die Haçienda, wurde zum Hauptquart­ier der ob ihres Irrsinns bald Madchester genannten Szene.

Die Haçienda-Hausherren hatten 1983 mit Blue Monday einen Welthit gelandet, nun eigneten sie sich den neuen Sound ebenso an wie die Stone Roses, die Inspiral Carpets oder die mit ihrem Namen auf ein Nachfolgem­odell des Roland TB-303 Bezug nehmenden 808 State. Nicht einmal ein misanthrop­ischer Tanzmuffel wie Mark E. Smith von The Fall widerstand dem Boom: Selbst er veröffentl­ichte Alben, denen der AcidHouse-Einfluss anzuhören war. Währenddes­sen sorgten Typen wie A Guy Called Gerald dafür, dass die Party nicht endete.

1989 fand in Berlin die erste Loveparade statt – quasi am Vorabend des Mauerfalls. Damit stand fest, dass der Kontinent ebenfalls infiziert war. House und vor allem Techno waren folglich die ersten musikalisc­hen Westexport­e in den ehemaligen Ostblock. Die Grenze zwischen Techno und House war ohnehin fließend, jene zwischen Tanz- und Rockmusik egalisiert­e 1991 die britische Band Primal Scream mit ihrem Album Screamadel­ica.

Der enorme Zuspruch zu House und Techno rief Trittbrett­fahrer und Verwerter auf den Plan. Bald prangten auf den Flyern die Logos von Sponsoren, DJs und Produzente­n wurden die neuen Popstars, die Kultur verkam zur Mode.

... besser leiser drehen

Heute sind die Ausläufer dieser Musik banale Accessoire­s des Alltags: von der Kaufhausmu­sik bis zur Hüttengaud­i. Denn im Grunde genommen basieren selbst DJ Bobo oder DJ Ötzi auf der Raveolutio­n, auch wenn in diesen Fällen gilt: turn down the volume.

Adidas hat aus Anlass des 30Jahr-Jubiläums von Acid House eben einen Turnschuh präsentier­t. Er ist zitiert die Ära in Smileygelb, Schwarz und Weiß und kostet 100 Euro. Dennoch gibt es bis heute Clubs, die die Musik hochhalten, für Revivals sorgen und ihr Erbe pflegen – das gute Erbe.

Auf der anderen Seite des entstanden­en Spektrums befüttern Acts wie David Guetta die Handys der Weltjugend. Der französisc­he Superstar der Electric Dance Music hat einst ebenfalls mit House angefangen. Wie sang eine große Band aus Manchester einmal so treffend? „The dream is gone / but the baby is real.“

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„24 Hour Party People“: die Haçienda in Manchester bei der angesagten Acid-HouseSchie­ne „Hot“im Sommer 1988.

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