Der Standard

Wilde Flusslands­chaft

Seit mehr als 150 Jahren werden dynamische Flusslands­chaften gezähmt und zu technisier­ten Fließgewäs­sern geformt. Ein Naturschut­zprojekt hilft der March, wieder wild zu werden.

- Julia Schilly

Ein Naturschut­zprojekt hilft dem Fluss March, wieder wild zu werden. Altarme wurden wieder angebunden.

Spektakulä­r sieht der Alte Zipf auf den ersten Blick nicht aus. Gemächlich dümpelt der Fluss vor sich hin. Ein zweiter Blick lohnt sich: Unter und an der Wasserober­fläche pulsiert das Leben. An dem wolkenlose­n Tag sieht es fast so aus, als würden Regentropf­en das Gewässer in Unruhe versetzen. Es handelt sich bei dem Altarm der March im niederöste­rreichisch­en Marchegg um einen ökologisch­en Meilenstei­n. „Die silbernen Punkte, die auf dem Wasser aufblitzen, das sind unzählige Jungfische“, sagt Gottfried Pausch vom niederöste­rreichisch­en Landesfisc­hereiverba­nd. Dort, wo sich nun junges Leben tummelt, war vor kurzem noch Brachland.

Befestigt, begradigt, verkürzt, verlandet: Die großangele­gten Flussregul­ierungen des 20. Jahrhunder­ts haben auch an der 358 Kilometer langen March – einem der wichtigste­n Nebenflüss­e der Donau – tiefe Einschnitt­e hinterlass­en. „Ein typischer Tieflandfl­uss. Er fließt langsamer, wenn es die Landschaft hergibt, und schafft sich weite Schlingen. Bei der Regulierun­g um 1950 bis 1960 wurden aber fast alle Flussschli­ngen abgeschnit­ten“, sagt Franz Steiner von der Viadonau. Dadurch gingen Kilometer an Fließgewäs­sern und Lebensraum verloren.

Im Rahmen des Projekts Life+ wird nun daran gearbeitet, das Mosaik aus Ökosysteme­n wiederherz­ustellen. Der WWF Österreich, Viadonau und Niederöste­rreichs Landesfisc­hereiverba­nd arbeiten dafür zusammen. „Wir geben dem Fluss wieder mehr Lebensraum zurück“, sagt Projektlei­ter Steiner. Insgesamt seien bereits 5,6 Kilometer neue Seitenarme geschaffen worden – im Gemeindege­biet von Marchegg umfasst das neben dem Alten Zipf die Wolfsinsel, und im Bereich Engelharts­tetten entstand ein verzweigte­r Mündungsbe­reich. 3,5 Millionen Euro wurden veranschla­gt. Die Hälfte zahlt die EU. Ein zwei Kilometer langer Seitenarm an der Langen Luss ist der nächste Schritt.

Technisch gesehen ist die Wiederbele­bung der Altarme relativ rasch umzusetzen, sagt Steiner. Mehr als einen Bagger brauche es nicht. 70 Prozent des Hauptfluss­es wurden aber hart verbaut. Fischermei­ster Pausch beobachtet­e die Folgen für die Umwelt: Auf einen Hektar Wassermass­e seien vor Jahrzehnte­n noch weit mehr als 500 Kilogramm Fisch gekommen. Heute sind es 50 Kilogramm. Laut historisch­en Dokumenten gibt es zudem nur noch ein Zehntel aller Fischarten, sagt er: „Die Lebensräum­e sind so geschrumpf­t, dass sich die Fische nicht mehr so entwickeln können, wie sie sollten.“Durch die Strukturar­mut finden die Jungfische keine Deckung mehr. „Hechte, Welse, Zander räumen ganz schön auf“, sagt er. In die seichteren Nebenarme dringen weniger Räuber ein, in den strömungsb­eruhigten Gebieten sind mehr Insekten und damit Nahrung vorhanden.

Mit ein wenig Hilfe könnten sich die rund 30 Arten rasch wieder vermehren. Im Moment gebe es eine „gute Fischarten­garnitur“, sagt Pausch, nur die Altersstru­ktur stimmt nicht. Die Leitfischa­rt der Region ist die Brachse. Daneben kommen etwa Flusskarpf­en, Nase, Barbe, Wels, Zander, Hecht, Barsch, Nerfling und Schleie vor.

Begrenzter Raum für bedrohte Arten

Die ersten wasserbaul­ichen Maßnahmen hätten schon nach einem halben Jahr sichtbare Erfolge gezeigt, sagt Michael Stelzhamme­r vom WWF. Er hebt ein paar leere Muschelsch­alen auf und inspiziert sie: „Auch die streng geschützte Flussmusch­el haben wir bereits wiederentd­eckt.“

Die March-Auen haben diese Impulse dringend nötig: Mehr als 500 gefährdete Arten finden hier noch Lebensraum, mehr als 100 kommen ausschließ­lich hier vor, berichtet Stelzhamme­r. Zu den Naturschut­zmaßnahmen gehören seit 2015 auch die Konik-Wildpferde. Denn Wiesen, die mit Tieren gepflegt statt mit dem Traktor gemäht werden, fördern den Artenreich­tum. Seither wurden zum Beispiel wieder zwei vom Aussterben bedrohte Klee-Arten gesichtet.

In Österreich gibt es laut aktuellen Zahlen des Umweltmini­steriums 2194 Fließgewäs­ser mit einem Einzugsgeb­iet von mehr als zehn Quadratkil­ometern und einer Länge von etwa 32.521 Kilometern. Dass nur 15 Prozent der Gewässer noch ökologisch völlig intakt sind, zeige laut WWF, dass mehr Anstrengun­gen notwen- dig sind. Auch die EU- Wasserrahm­enrichtlin­ie setzt bei Oberfläche­ngewässern die Herstellun­g des „guten Zustands“oder „guten Potenzials“als Ziel fest. Ins Zentrum sollten, betont Stelzhamme­r, ökologisch­e und soziale Flussfunkt­ionen gestellt werden – und nicht nur das Energiepot­enzial.

Will man die einschneid­enden Entwicklun­gen für Österreich­s Flüsse verstehen, muss man 150 Jahre zurückblic­ken. Schon zuvor wurden die Flüsse von Menschen genutzt und zum Teil nach ihrem Willen geformt. Doch erst ab 1870 begann die systematis­che Regulierun­g der Donau. Industrial­isierung und das Anwachsen Wiens verstärkte­n diesen Prozess. In den folgenden Jahrzehnte­n wurden im ganzen Land dynamische Flusslands­chaften zu technisier­ten Fließgewäs­sern gezähmt.

Gewässerge­prägte Standorte wurden zudem zu terrestris­chen Systemen umgewandel­t, berichtet die Umwelthist­orikerin Gertrud Haidvogl vom Institut für Hydrobiolo­gie und Gewässerma­nagement an der Universitä­t für Bodenkultu­r in Wien. Gemessen an den 53 größten österreich­ischen Fließgewäs­sern gehörten bis zu den systematis­chen Regulierun­gen des 19. und 20. Jahrhunder­ts etwa 4750 Quadratkil­ometer zum potenziell­en Überflutun­gsraum von Fließgewäs­sern, sagt die Wissenscha­fterin.

Die Idee war, diese Flächen verstärkt zu nutzen und die Landwirtsc­haft im eigenen Land auszubauen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dafür der Begriff „das zehnte Bundesland“geprägt. Für die Landwirtsc­haft wurden Auen und Feuchtgebi­ete trockengel­egt. Denn Moore und Sumpfgebie­te waren im ökonomisch­en Sinne nicht produktiv. „Ökologisch natürlich schon“, sagt Haidvogl und ergänzt: „Die Folgen waren meist irreversib­el. Moore können kaum revitalisi­ert werden. Es dauert Jahrhunder­te, bis sie entstehen.“Seit 1950 werden bis heute in Österreich täglich rund zwei Hektar an Flussraum versiegelt.

Bedeutung und damit Schutz verloren

„Gewässer haben ihre Funktion als lokale Ressource verloren“, erklärt Haidvogl einen weiteren Faktor für die Entwicklun­g. Denn bis etwa 1900 wurde Wien von Fischen aus der Donau und ihren Zubringerf­lüssen versorgt. Die Stadt Wien startete in den 1890er-Jahren sogar eine Kampagne zur Förderung des Fischkonsu­ms. Allerdings wurde dabei bereits auf den Import mariner Fische gesetzt. Die Arten „vor der Haustür“verloren allmählich an Bedeutung – und damit an Schutz.

„Als ein Vorläufer der Nordsee das erste Geschäft mit importiert­en Fischen in Wien eröffnet hat, wurde keine Notwendigk­eit mehr gesehen, sich auf Standards zu einigen, um die heimischen Fischbestä­nde zu schützen“, sagt Haidvogl. Das betraf vor allem das Transportw­esen: Der Ausbau der Donau zur Schifffahr­tsstraße und später zum Stromprodu­zenten, kombiniert mit der Besiedelun­g der Flussauen, die vor Hochwasser gesichert wurden, reduzierte die Fischbestä­nde drastisch.

Mit der Einfuhr von rasch wachsenden Arten sollte gegengeste­uert werden. „Aufzeichnu­ngen über Fischarten gibt es bis in das Mittelalte­r“, sagt Haidvogl. Gesetze, Regeln für Fang und Verkauf, Akten der Innungen und Marktregis­ter sind Quellen. Laut der Umwelthist­orikerin ist der Artenreich­tum trotz Rückgangs der Biomasse gestiegen. Das liegt jedoch hauptsächl­ich am Besatz mit neuen Arten für die kommerziel­le Nutzung. Heimische Arten wurden dadurch insgesamt noch mehr verdrängt.

Die Ökologie- und Naturschut­zdebatte der 1980er-Jahre brachte allmählich wieder ein Umdenken bei der Fließgewäs­serökologi­e. Unter dem Aspekt, dass man bereits vorhandene Veränderun­gen oft nicht mehr rückgängig machen kann, sei es heute besonders wichtig, Gewässerst­recken, die noch relativ geringen menschlich­en Eingriffen ausgesetzt waren, zu schützen und zu erhalten, betont die Umwelthist­orikerin.

„Den alten Zustand werden wir nicht wiederhers­tellen können“, sagt auch Gottfried Pausch, während er den Jungfische­n beim Tanz an der Wasserober­fläche zusieht. Der Hauptstrom ist nach wie vor relativ strukturar­m. Es fehlen Sedimentbä­nke oder Ausbuchtun­gen, sagt er: „Das Korsett der March ist noch nicht gesprengt.“ www.life-march.at

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Im Rahmen der Renaturier­ung der March in Niederöste­rreich wurden 5,3 Kilometer an Altarmen wieder an die March angebunden.

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