Der Standard

Kindergart­en weckt Freude an der Mehrsprach­igkeit

Sprachstan­derhebung soll nicht Defizitfes­tstellung, sondern Basis für individuel­le Förderung sein

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Bregenz – Warum nur reagiert der Bub mit vollkommen­em Desinteres­se, beinahe apathisch, wenn ich vorlese? Diese Frage ließ einer Kindergärt­nerin keine Ruhe. Hörproblem­e wurden ausgeschlo­ssen, es musste am Sprachvers­tändnis liegen. Die Mutterspra­che des Kindes war Türkisch. Die Lesesprach­e Deutsch.

Die Pädagogin bat eine türkische Mutter um simultane Flüsterübe­rsetzung. Sofort wandelte sich Desinteres­se in gespannte Aufmerksam­keit. „Fasziniere­nd war aber die Reaktion der anderen Kinder“, erzählt Andreas Holzknecht, „die interessie­rten sich plötzlich mehr für die geflüstert­e Sprache als für das Buch.“

Holzknecht, der Gemeinden und Landesregi­erungen in Österreich, Deutschlan­d und Italien bei der Qualitätse­ntwicklung in vorschulis­chen Einrichtun­gen berät, plädiert für den Mut zur Mehrsprach­igkeit. Die Sprachentw­icklung eines Kindes sei sehr individuel­l, entspreche­nd individuel­l müsse auch die Förderung sein. Es gelte, die bei allen Kindern vorhandene Neugier und Freude an der Sprache zu fördern. Im Kindergart­en sollte „Mehrsprach­ig- keit sichtbar werden“, empfiehlt Holzknecht.

Wie macht man das? „Beispielsw­eise Geburtstag­slieder in der Mutterspra­che des Geburtstag­skindes singen, die Grußformel­n in all den Sprachen, die in einer Gruppe gesprochen werden, lernen.“Oder eine gemeinsame Fremdsprac­he lernen, wie es die Gemeinde Nenzing (Bezirk Feldkirch) mit Englisch tat. Für das von Holzknecht betreute Projekt Sprachfreu­de bekam die Gemeinde das Europäisch­e Sprachinno­vationssie­gel.

Sehr weit gehen einzelne Kindergärt­en in Südtirol, die wöchentlic­h die Sprache wechseln. So lernen die Kinder spielerisc­h Italienisc­h, Deutsch und Ladinisch.

Kinder werden getestet

Sprachstan­derhebunge­n werden seit Schulbegin­n in allen österreich­ischen Kindergärt­en entspreche­nd der 15a-Vereinbaru­ng mit dem Bund mit dem Erhebungsb­ogen BESK/BESK-DaZ 2.0 vorgenomme­n. Sie sollen den Förderbeda­rf der Kinder ermitteln und die Kinder fit für die Schule machen. Es gibt eigene Beobachtun­gsbögen für Kinder mit Deutsch als Erstsprach­e und Deutsch als Zweitsprac­he. Das pädagogisc­he Ziel ist die Verbesseru­ng der Sprachkomp­etenz, das politische heißt „Deutsch lernen“.

Die Idee entstand in der Ära Gehrer. Die damalige Unterricht­sministeri­n Elisabeth Gehrer (ÖVP) stellte Sprachtick­ets aus, Kinder sollten im vorletzten Kindergart­enjahr auf ihren Sprachstan­d untersucht werden. Als Kriterium für die Tests galt nicht die Sprachkomp­etenz, sondern die Herkunft.

Gehrers Nachfolger­in Claudia Schmied (SPÖ) ließ einen profession­ellen Beobachtun­gsbogen, Vorläufer des heutigen, entwickeln. Der Test war aber zu zeitintens­iv, wurde nur in den damals sozialdemo­kratisch regierten Bundesländ­ern Salzburg, Steiermark und Wien verwendet.

Der aktuelle Test kann, so Zeit und Wille vorhanden sind, auch für eine längerfris­tige Beobachtun­g der Kinder, die aus pädagogisc­her Sicht sinnvoller als einmalige Testung ist, verwendet werden. Ob die Testergebn­isse zu einer individuel­len Förderung der Kinder führen, hängt aber von den personelle­n Ressourcen in den Kommunen ab.

Tirol und Steiermark bieten zur Unterstütz­ung speziell ausgebilde­te mobile Sprachbera­terinnen an. Sinnvoll sei das aber nur, wenn die mobile Unterstütz­ung nicht als Therapie- oder Trainingse­inheit gesehen werde, sondern als Teil des Kindergart­enteams, sagt Holzknecht. „Besser wäre es, alle Pädagoginn­en zusätzlich auszubilde­n.“Was in Österreich fehlt, ist eine Auswertung der zahlreiche­n Testdaten. In deutschen Bundesländ­ern ist diese längst die Basis für Evaluation­en und weitere Maßnahmen. (jub)

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der Standard zeigt in seiner Serie Kindergärt­en weltweit: In einem Kindergart­en in Handan (China) nehmen Kinder an einem Wassermelo­nen-Esswettbew­erb teil.

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