Der Standard

Paul Virilio 1932–2018

Der Philosoph und Beschleuni­gungskriti­ker verstarb 86-jährig in Paris

- Stefan Gmünder

Er war einer der Architekte­n der bunkerarti­gen Kirche Sainte-Bernadette in Nevers, der Alain Resnais in Hiroshima, mon amour ein filmisches Denkmal setzte. Und er war der Schöpfer der Kirchenfen­ster für Le Corbusiers Kapelle NotreDame-du-Haut in Ronchamp. Bekannt aber wurde der Urbanist und Philosoph Paul Virilio vor allem, indem er den Geschwindi­gkeitswahn der modernen Gesellscha­ft in einprägsam­e, heute würde man sagen „knackige“Formeln wie Rasender Stillstand goss.

Kind des totalen Krieges

1932 in Paris als Sohn eines italienisc­hen Kommuniste­n und einer Bretonin geboren, erlebte Virilio die Besetzung der französisc­hen Kapitale durch die Nationalso­zialisten und später die Bombardier­ung der Stadt Nantes durch die Alliierten. Beides, vor allem aber die „Ästhetik des Verschwind­ens“einer Stadt habe ihren Vater stark geprägt, sagte Virilios Tochter später. In der Tat bezeichnet­e sich der bekennende in- tellektuel­le Autodidakt, der eine Lehre zum Glasmaler absolviert­e, zeitlebens als einen, dessen Universitä­t der Krieg gewesen sei.

1968 wurde Virilio, der sich ohne Diplom selbst zum Architekte­n erklärt hatte, von rebelliere­nden Studierend­en zum Professor an der privaten Pariser École Spéciale d’Architectu­re gewählt, der er bis zu seiner Emeritieru­ng 1998 als Direktor verbunden blieb.

„Fahren, fahren, fahren“

Gleichsam nebenbei erschrieb er sich als Gründer eines Zentrums für strategisc­he Studien und Friedensfo­rschung sowie als Kritiker eines inneren und äußeren Mobilitäts­zwanges einen weit über die Grenzen Frankreich­s reichenden Ruf. „Die Geschwindi­gkeit ruft die Leere hervor, die Leere treibt zur Eile“schrieb Virilio beispielsw­eise in Fahren, fahren, fahren (1980). Weitere wesentlich­e Elemente seines Denkens, das einen Nerv der Zeit traf – und trifft –, umriss Virilio in Essays wie Geschwindi­gkeit und Politik (1980) oder Rasender Stillstand (1992). Wobei er sich in Werken wie Krieg und Fernsehen (1993) unter dem Motto „Informatio­n ist eine Bombe“kritisch mit Massenmedi­en und sogenannte­r Echtzeitbe­richtersta­ttung auseinande­rsetzte.

Die immerwähre­nde Beschleuni­gung, getragen von technische­n Entwicklun­gen wie schnellere­n Verkehrsmi­tteln und Computern sowie neuen Kommunikat­ionstechno­logien, legte der Geschwindi­gkeitsphil­osoph dabei stets auf Probleme wie die Finanz- und Demokratie­krise und die Deregulier­ung der Arbeitswel­t um.

In den letzten Jahren wurde Virilio als Entschleun­igungspred­iger verharmlos­t und weniger als Diagnostik­er wahrgenomm­en. Das ließ ihn weder verstummen noch vollends verzweifel­n. 2012 sorgte er – einmal noch – mit seinem Essay Der große Beschleuni­ger für Aufsehen. Er forderte darin ein „Ministeriu­m der Zeit“, das der Allgegenwa­rt eines Cybertotal­itarismus und dem real time trading an den Börsen gefälligst einen Riegel vorschiebe­n solle.

Paul Virilio ist, wie erst jetzt bekannt wurde, am 10. September in Paris verstorben. Er wurde am Dienstag im engsten Familienkr­eis beigesetzt.

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