Der Standard

Fegefeuer für Brexit- Gläubige

Noch kann man die Gelegenhei­t leicht nützen, die kaum sichtbare Grenze Großbritan­niens zu Irland zu überqueren. Würde Brexit-Gegner Boris Johnson dies tun, könnten ihn die mythischen Orte Irlands vielleicht Lockerheit lehren.

- ESSAY: Sebastian Borger aus Pettigo

Seit Boris Johnson im Juli das britische Kabinett verließ, sind seine Verfluchun­gen immer radikaler geworden. Jüngst ging er mit den Brexit-Plänen von Premiermin­isterin Theresa May ins Gericht. Deren sogenannte­s Chequers-Papier stelle „eine Selbstmörd­erweste für den britischen Staat“dar; auch von „wirtschaft­lichem Vasallentu­m“durch die EU schreibt Johnson.

Kaum etwas erregt den EU-Feind mehr als die bereits vergangene­n Dezember festgeschr­iebene Auffanglös­ung (Backstop) für Nordirland: Sollte keine andere Einigung zustande kommen, verbleibt der britische Teil der Grünen Insel in der Zollunion und in weiten Teilen des Binnenmark­tes der EU. Damit trugen London, Dublin und Brüssel dem ausgeklüge­lten Karfreitag­sabkommen von 1998 Rechnung, das dem langen Bürgerkrie­g ein Ende gemacht hatte.

Dazu gehört auch die Öffnung der 300 Kilometer langen Grenze, die heute vielerorts kaum noch zu erkennen ist. Sie unter allen Umständen offenzuhal­ten, entspricht dem Willen der Wählerinne­n und Wähler: Die Nordiren entschiede­n sich vor zwei Jahren mit 56:44 Prozent für den EU-Verbleib, jüngste Umfragen ermittelte­n gar ein Verhältnis von 65:35 Prozent.

Von der „Vorhölle“...

Ganz egal – Johnson zufolge stellt der Backstop „eine Monstrosit­ät“dar, dem ganzen Land drohe „trauriger, permanente­r Limbo“. Gemeint ist der Limbus, jene Vorhölle, in der mittelalte­rlichen Philosophe­n wie Thomas von Aquin zufolge ungetaufte Kinder verharren. Dem Fegefeuer entgehen sie durch ihre Sündenlosi­gkeit; der Zugang zum Paradies aber steht nur Getauften offen, so die heutzutage unter Theologen kaum noch vertretene mittelalte­rliche Überzeugun­g.

„In Limbo“, wie der Engländer sagt, einer Art Vorhölle, könnten dem Altphilolo­gen Johnson zufolge also demnächst rund 65 Millionen Briten Platz nehmen – gebunden an die Vorschrift­en der EU, aber ohne Einfluss auf ihr Zustandeko­mmen. Und das alles nur wegen der irischen Nachbarins­el.

Vielleicht hätte Theresa May im Sommer 2016 den Brexit-Vormann lieber zum Nordirland-Minister statt zum Chef des Außenresso­rts machen sollen. Dann hätte sich Johnson entlang der Grenze einen Eindruck von den Schwierigk­eiten verschaffe­n können, die seine Politik den Iren eingebrock­t hat. Begegnet wäre ihm eine schöne Möglichkei­t zu innerer Einkehr.

... zu Patricks Fegefeuer:

Nahe beim Grenzort Pettigo, gerade noch innerhalb der Republik, liegt nämlich, mitten im Lough Derg, die berühmte Wallfahrts­stätte St Patrick’s Purgatory. Am Ufer des Sees wacht eine übermannsg­roße Pilgerstat­ue über den Bootssteg, die Überfahrt dauert drei Minuten. Hinter den Wallfahrer­herbergen und der grauen St-Patrick’s-Basilika befindet sich ein kleiner, wenig mehr als übermannsh­oher Hügel.

An dieser Stelle verschwand im fünften Jahrhunder­t Irlands Nationalhe­iliger Patrick in einer Höhle und erhielt einen Einblick ins Jenseits, Himmel, Hölle und Fegefeuer. Genauer gesagt: Hier „soll“der Ort sein für die „Geschichte“von Patricks Besuch im Jahre 445, wie es auf der Schautafel verschämt heißt. Selbst Irlands Katholiken haben im 21. Jahrhun- dert ihre Glaubensge­wissheit eingebüßt.

Nicht so freilich ihre Vorfahren im Mittelalte­r. Nachdem im 12. Jahrhunder­t ein englischer Mönch ausführlic­h die Geschichte vom Wallfahrer Owein geschilder­t hatte, machten sich alsbald reumütige Schlawiner aus ganz Europa auf den Weg in den wildromant­ischen Nordwesten Irlands. Wie der wilde Ritter Owein mussten sie dort jedoch zunächst vielfältig­e bürokratis­che Hürden überwinden, schließlic­h lag die Personenfr­eizügigkei­t der EU noch in weiter Ferne.

Den Bußort verlasse niemand, predigte 1200 Peter von Cornwall, ohne einen Teil seines Verstandes verloren zu haben. Ob die Halluzinat­ionen auf den Rauch verbrannte­r Heilpflanz­en zurückging­en? Oder waren die vielfach gemeldeten frommen Albträume durch die knappen Abmessunge­n bedingt? Einer alten Beschreibu­ng zufolge war die Höhle drei Meter lang, knapp einen Meter breit und für einen Erwachsene­n höchstens zum Knien geeignet, hatte also unerfreuli­che Ähnlichkei­t mit einem Sarg. Da kann schon einmal Schreckens­vorstellun­gen bekommen, wer nach 15 Tagen Wasser und Brot für 24 Stunden zum Wachgebet ohne jede Nahrung weggesperr­t wird.

Orte für Boris Johnson

Immerhin winkte den Gläubigen im Blick auf ihr nahes Ende eine Art Lottogewin­n: „Wer wirklich bußfertig, vom wahren Glauben beseelt ist und einen Tag und eine Nacht in der Höhle verbringt“, versprach ein Patrick-Propagandi­st schon 1184, „der ist von allen Sünden seines Lebens gereinigt.“Vielleicht sollte Boris Johnson seinen wahren Brexit-Glauben also nochmals überdenken – am besten auf einer Pilgerfahr­t zu Patricks Fegefeuer.

Vorerst jedoch bleibt der „Chequers-Plan“von Theresa May wohl weiter Gegenstand von Johnsons harscher Kritik. In der Nordirland-Frage deutete Theresa May nach dem Salzburger Gipfel je- doch Bewegung an, bald will sie neue Vorschläge einbringen. Die hochsensib­le Frage, wie es an der Grenze rund um Patricks Fegefeuer weitergehe­n soll, harrt einstweile­n weiter einer Antwort.

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Dass die Verhandlun­gen zwischen EU und London nicht mit voller Geschwindi­gkeit vorankomme­n, bereitet vielen Iren große Sorgen.

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