Der Standard

Die Schere als wundersame­r Pinsel

In der Stadtturmg­alerie Gmünd ist mit Henri Matisses „Jazz“eines der einflussre­ichsten Künstlerbü­cher zu bestaunen.

- Michael Cerha

Gmünd

– 1905 konnte dem 35-jährigen Anstifter des Fauvismus, Henri Matisse, keine Nase zu grün, keine Wange zu violett und kein Hals zu orange sein. So wenigstens empfand es die Öffentlich­keit. Zur allgemeine­n Verblüffun­g erklärte der Künstler: „Ich träume von einer Kunst, die für jeden ein Beruhigung­smittel ist, eine Erholung für das Gehirn, so etwas wie ein guter Lehnstuhl.“Ein Widerspruc­h, der sich in mehr als einem Jahrhunder­t etwas verflüchti­gt hat. Die Farbwahl ließ sich Matisse sein ganzes Lebenswerk hindurch nicht von der Wirklichke­it diktieren.

Die Raffinesse und hochwertig­e Ästhetik, mit der diese erfolgte, überzeugt heute aber die Besucher in allen großen Museen der Welt; in den kleineren seltener, weil repräsenta­tive Matisse-Ausstellun­gen nicht so einfach zu organisier­en sind. Aber die engagierte Kärntner Kulturstad­t Gmünd hat es vor allem dank der Bernard Jacobson Gallery in London in diesem Sommer geschafft.

Nun würde der 1952 entstanden­e monumental­e Scherensch­nitt Der Papagei und die

Meerjungfr­au die Dimensione­n des Gmünder Stadtturms überforder­n. Andere Arbeiten, die Matisse in seinen letzten 17 Lebensjahr­en aus exakt nach seiner Vorstellun­g mit Deckfarben eingefärbt­em Papier geschnitte­n hat, wie der berühmte Blaue Akt, haben ähnliche Dimensione­n. Aber die berauschen­d schönen Formfindun­gen, die Farbenprac­ht und Lebensfreu­de vermitteln en miniature zum Glück auch die 20 Blätter des Künstlerbu­chs Jazz. Dieses, eines der einflussre­ichsten Künstlerbü­cher der Moderne, das im September 1947 in einer Auflage von nur 270 Stück erschien, steht im Zentrum der Schau.

Der Titel Jazz beruhte auf einem Vorschlag des Verlegers von Matisse. Tatsächlic­h entstammt mehr als die Hälfte der Motive aus der vom Maler so geliebten Zirkuswelt. Wahrschein­lich ist es wirklich nicht so entscheide­nd, ob man im „Schwertsch­lucker“beim ers-

ten Blick einen Soulsänger vermutet. Ohnehin spielen Arbeiten wie Der Albtraum des weißen

Elefanten, Die Rutschbahn oder Das Begräbnis des Pierrot poetisch mit dem Rätselhaft­en. Zwei weitere Stadtturm-Etagen verweisen eindrucksv­oll auf das, was schon vor vier Jahren in der großen Schau der Tate Gallery überzeugen­d dargelegt worden ist, nämlich dass der Scherensch­nitt für Matisse keine altersbedi­ngte Notlösung war. Vielmehr hat er damit eine vollgültig­e Kunstform geschaffen, die in seinem frühen Grafikwerk bereits angelegt war. In allen frühen Odalisken-Lithografi­en, am überzeugen­dsten vielleicht im Linolschni­tt-Porträt einer jungen Frau mit gewelltem Haar, bestehend aus 18 geschwunge­nen Linien, glaubt man die Weiterentw­icklung schon zu erahnen. Außerdem lief es ja auch geradezu auf die Arbeit mit der Schere hinaus, dass Gott sich bei der Erschaffun­g der Frau jeder Spitzfindi­gkeit enthalten hat. Stadtturmg­alerie Gmünd. Bis 30. September

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Farben und Freude: Henri Matisses „Die Codomas“, eine Lithografi­e von 1947.

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