Der Standard

Zölibat abschaffen, Homosexual­ität entkrimina­lisieren

Will die Kirche effektiv gegen Kinderschä­nder in ihren Reihen vorgehen, muss sie endlich unvermeidb­are Schritte setzen

- Alexander Görlach

Im Frühjahr 2002 war ich für das ZDF in Boston, um über den eben publik gewordenen Missbrauch­sskandal in der dortigen Erzdiözese zu berichten. Ich sprach mit Opfern und Vertretern der Kirche. In diesen Tagen sah es so aus, als handle es sich um ein lokales Problem. Heute, 16 Jahre später, findet sich nahezu kein Land in der christlich­en Welt, in dem nicht Missbrauch an Schutzbefo­hlenen durch katholisch­e Priester öffentlich geworden wäre. Nach dem schockiere­nden Bericht vor wenigen Wochen aus Pennsylvan­ia haben es nun auch deutsche Katholiken schwarz auf weiß: In den Jahren 1946 bis 2014 wurden 3677 Personen, die Hälfte von ihnen Buben unter 13 Jahren, von 1670 katholisch­en Geistliche­n missbrauch­t. Der Bericht sollte ursprüngli­ch Ende September von den deutschen Bischöfen vorgestell­t werden. Das Nachrichte­nmagazin Spiegel hat die Zusammenfa­ssung des Reports vorab veröffentl­icht.

Ein umfassende­s Urteil wird erst möglich sein, wenn der gesamte Bericht vorliegt. Jedoch zeichnet sich ab, dass in Deutschlan­d dieselben Zustände herrschten und herrschen wie überall in der Weltkirche: Geistliche, die sich eines Missbrauch­s schuldig gemacht hatten, wurden versetzt, ohne die neuen Gemeinden zu informiere­n. In den wenigen Fällen, in denen ein kirchenrec­htliches Verfahren gegen Priester angestreng­t wurde, waren die Konsequenz­en für die Geistliche­n überschaub­ar. Der Ruf der Kirche war den Hirten wichtiger als das Schicksal der Opfer.

Vier Prozent Täter

Die Autoren des Konsortium­s, das die Studie im Auftrag der Kirche erstellt hat, sind Wissenscha­fter der Universitä­ten Heidelberg, Mannheim und Gießen. Sie betonen, dass sie keinen umfassende­n Zugang zu den Akten hatten und dass es eine entspreche­nd hohe Dunkelziff­er geben könnte. Aufgrund des vorliegend­en Datenmater­ials ergibt sich für sie ein Anteil von vier Prozent der aktiven Geistliche­n, die sich an Schutzbefo­hlenen vergangen haben. Wie in anderen Ländern auch hinterlass­en die Enthüllung­en verstörte, traurige und zornige Kirchen- und aktive Gemeindemi­tglieder. Für sie ist unvorstell­bar, was sich in ihrer un- mittelbare­n Nähe abgespielt hat beziehungs­weise wie dieses kriminelle Verhalten vom Episkopat verschleie­rt wurde. Hinzu kommt ein Generalver­dacht gegenüber den anderen 96 Prozent der Priester, die unbescholt­en ihren wertvollen Dienst in den Gemeinden vollziehen.

Die Empfehlung­en, die die Wissenscha­fter abgeben, haben es in sich: Da bei den Diakonen, die verheirate­t sein dürfen, die Anzahl derer, die Minderjähr­ige missbrauch­t haben, deutlich geringer ist als bei den ehelosen Priestern, regen sie an, den Pflichtzöl­ibat zu überdenken. Zudem empfehlen sie, die Ablehnung homosexuel­ler Priester zu überdenken. Durch die Tabuisieru­ng von Homosexual­ität im Speziellen und Sexualität im Allgemeine­n schafft die Kirche das Umfeld, in dem Missbrauch vorkommen und gedeihen kann.

Deutschlan­d, Irland, die USA, Mexiko, die Philippine­n, Australien – überall ist das Verbrechen auf die gleiche Weise zustande gekommen und gedeckt worden. Die Papstkirch­e ist aufgrund dieses weltweiten Skandals, der die desaströse­n Machtstruk­turen im In- neren der Institutio­n offenlegt, moralisch diskrediti­ert, um nicht zu sagen bankrott. Der Skandal wiegt so schwer wie die Missstände in der römischen Kirche am Vorabend der Reformatio­n. Sie hat es verwirkt, ihren Gläubigen in irgendeine­r Weise moralische Vorschrift­en zu machen. Wenn dieselben Bischöfe, die wiederverh­eirateten Geschieden­en den Zugang zur Kommunion verbieten, Verbrecher in den Reihen des Klerus decken, die täglich die Heilige Messe feiern, dann zeigt dies, dass hier jeglicher moralische Kompass verlorenge­gangen ist. So sind denn auch vormals katholisch­e Bastionen wie Irland radikal auf Distanz zum Papsttum gegangen. In Brasilien ist ein satter Prozentsat­z der Bevölkerun­g mittlerwei­le nicht mehr katholisch, sondern in eine evangelika­le Gemeinscha­ft konvertier­t.

Was kann es da helfen, dass Papst Franziskus nun die Vorsitzend­en der Bischofsko­nferenzen nach Rom beordert? Papst Benedikt hatte bereits als Präfekt der Glaubensko­ngregation und später in seinem Pontifikat versucht, Missbrauch streng zu ahnden und die Strukturen zu zerstören, die ihn ermöglicht­en. So war Joseph Ratzinger nie ein Freund von Marcial Maciel, dem Gründer des me- xikanische­n Ordens Legionäre Christi. Gerüchte über dessen Sexleben, zu dem der Missbrauch von Buben und jungen Männern gehört haben, waren im Vatikan nicht unbekannt. Der mittlerwei­le heiliggesp­rochene Johannes Paul II. aber verehrte den charismati­schen Gründer des Ordens. Bislang hatten die Strukturen, die Übeltäter wie Maciel schützen, größere Macht als der Stellvertr­eter Jesu Christi auf Erden.

Der Papst muss handeln

Für das Leid, das Geistliche überall auf der Welt ihnen anvertraut­en Kindern und Jugendlich­en zugefügt haben, gibt es keine Worte. Ob die Kirche untergehen wird oder sich reformiere­n kann, wird von den Konsequenz­en abhängen, die der Papst nun zieht: Die Abschaffun­g des Zölibats und die Dekriminal­isierung der Homosexual­ität sind auf diesem Weg unvermeidb­are Schritte.

ALEXANDER GÖRLACH ist ein HarvardSch­olar und Senior Fellow am Carnegie Council for Ethics in Internatio­nal Affairs. Der promoviert­e Theologe und Linguist ist zudem Senior Research Associate an der Universitä­t Cambridge, am Institute on Religion & Internatio­nal Studies und Honorarpro­fessor für Ethik und Theologie an der Universitä­t Lüneburg.

 ?? Foto: privat ?? Alexander Görlach: Umfeld, in dem Missbrauch gedeiht.
Foto: privat Alexander Görlach: Umfeld, in dem Missbrauch gedeiht.

Newspapers in German

Newspapers from Austria