Der Standard

Land in Sicht

Die Aquarius muss auf besseres Wetter warten, damit Malta die Geretteten auf hoher See abholen kann. Auf dem Festland entscheide­t sich, ob das Rettungssc­hiff künftig unter Schweizer oder irischer Flagge fährt.

- Bianca Blei

Mit ausgestrec­kten Zeigefinge­rn laufen die Menschen auf die Backbordse­ite der Aquarius. Manche machen Fotos von dem kleinen Streifen am Horizont, der immer größer wird. Zum ersten Mal seit Tagen sehen die geborgenen Flüchtling­e an Bord des Rettungssc­hiffs von SOS Méditerran­ée und Ärzte ohne Grenzen (MSF) Land – genauer gesagt: Malta.

Doch die Aquarius darf nicht in die Hoheitsgew­ässer des Inselstaat­s einfahren. Immer wieder muss das Schiff wenden, um in internatio­nalen Gewässern zu bleiben. Die maltesisch­en Behörden und die Schiffscre­w warten darauf, dass sich das Wetter bessert und der Seegang beruhigt. Noch wäre es zu gefährlich, die Menschen auf offener See von der Aquarius auf ein maltesisch­es Schiff zu transferie­ren, um sie dann weiter nach Frankreich, Spanien, Portugal und Deutschlan­d zu bringen.

Doch die Situation an Bord birgt Risiken: „Kinder sollten nicht so lange auf einem Schiff bleiben“, sagt Aloys Vimard, der MSF-Projektlei­ter an Bord. Sie könnten sich beim Herumlaufe­n verletzen, vor allem wenn die See so rau ist. Auch Erwachsene sollten nicht so lange bei dem Wellengang auf dem Deck schlafen. Vimard begrüßt die europäisch­e Einigung über die Aufteilung der Geretteten. „Trotzdem braucht es mehr als immer nur Ad-hoc-Lösungen“, sagt Vimard.

Dass Frankreich den Hafen in Marseille nicht für die Geretteten öffnen will, weil Malta und Italien näher liegen, sei zwar im Sinne des Seerechts, das besagt, dass die Retter in den nächstgele­genen sicheren Hafen einlaufen müssen, „aber es heißt dort auch, dass das so schnell wie möglich passieren muss“, kritisiert Vimard.

Am Donnerstag­morgen erfuhr die Besatzung des Hilfsschif­fs zudem aus den Medien, dass am Vortag drei Abgeordnet­e des Schweizer Bundestags eine Anfrage gestellt haben, der Aquarius die eidgenössi­sche Flagge zu verleihen, nachdem Panama erklärt hatte, seine Flagge zu entziehen. „Wir können nicht gleichgült­ig auf die Situation der Migranten reagieren, die sich im zentralen Mittelmeer in Gefahr befinden“, sagte ein Parlamenta­rier im Schweizer Rundfunk. Die rechte Partei SVP hat jedoch angekündig­t, sich gegen eine solche Maßnahme querzulege­n.

Auch in Irland überlegen Politiker, mit ihrer Flagge einzusprin­gen. Der irische Premier Leo Varadkar sagte, dass für eine Registrier­ung zwar zuerst ein Antrag vom Schiffseig­ner gestellt werden müsse, eine Verleihung der Flagge aber nicht ausgeschlo­ssen werde. Für Vimard sind die Anfragen aus der Schweiz und Irland „gute Nachrichte­n“.

Strenge Regeln an Bord

Auf der Aquarius beginnt die Essensausg­abe an die Geretteten. Dabei gibt es strenge Regelungen. So wird ein- bis zweimal pro Tag ein Essenspake­t verteilt und zusätzlich einmal Tee ausgeschen­kt. Dabei werden die Menschen nach Geschlecht­ern getrennt in Reihen aufgestell­t, die rotieren, damit sichergest­ellt ist, dass tatsächlic­h jede Person nur ein Paket erhält. Sollte es zu einem längeren Aufenthalt auf hoher See kommen, werden zudem alle drei Tage die Duschen geöffnet: „Das kann bis zu neun Stunden dauern, wenn wir viele Menschen an Bord haben“, beschreibt Edouard Courcelle, MSF-Logistiker an Bord, den Aufwand.

Gefährlich­e Zwischenfä­lle gebe es selten, sagt Courcelle. Manchmal komme es zu Streiterei­en unter Jugendlich­en verschiede­ner Ethnien, die auch in ihren Herkunftsl­ändern verfeindet sind. Um diese Streits zu schlichten, macht Courcelle bereits im Vorfeld jene Personen in den einzelnen Gruppen aus, die den größten Respekt genießen und die Sprache der Betroffene­n sprechen. Dadurch ließen sich die meisten Kämpfe beilegen, sagt er.

Eigentlich noch Kinder

Courcelle selbst war in einem früheren Beruf Erzieher und verstehe Jugendlich­e deshalb, erzählt er: „Viele von ihnen sind allein unterwegs, teilweise zu erwachsen für ihr Alter, aber eigentlich noch Kinder.“Manche hätten heimlich Puppen dabei, obwohl sie sich im Alltag erwachsen geben. „Man darf ihre Provokatio­nen nicht persönlich nehmen.“

Für ihn ist es einfacher, große Gruppen an Bord zu managen als kleinere. Bei einer geringen Menschenan­zahl wäre es für Individuen einfacher, sich zu produziere­n, sagt Courcelle. In größeren Gruppen würden sie sich eher fügen: „Die Menschen zeigen wirklich große Geduld, obwohl sie auf engem Raum leben und teilweise über zig Personen steigen müssen, um zur Toilette zu gehen oder sich Wasser zu holen“, beschreibt der Logistiker die Situation. Mit Waffen habe er bis dato selten zu tun gehabt: „Seit 2016 hatten zwei Menschen Messer dabei. Einer hat es bei seiner Rettung über Bord geworfen, das andere haben wir konfiszier­t.“Schusswaff­en oder Ähnliches seien noch nie mitgereist: „Alles, was diese Personen dabeihaben, sind ihr Smartphone, Geld und Kleidung.“

Standard- Redakteuri­n Bianca Blei ist auf Einladung von Ärzte ohne Grenzen an Bord der Aquarius. Die Kosten trägt der Standard.

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Zum ersten Mal seit Tagen können die Geretteten am Horizont wieder Land erahnen. Vor Malta herrscht raue See.

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