Der Standard

Immer mehr psychisch kranke Rechtsbrec­her

Bei einer Strafricht­ertagung zeigt sich, dass es mehrere Gründe dafür gibt, dass immer mehr Betroffene in Anstalten eingewiese­n werden: Angst vor Fehleinsch­ätzungen und ein höherer Anteil an Fremden.

- Michael Möseneder aus St. Gilgen

Österreich­s Anstalten für geistig abnorme Rechtsbrec­her werden immer voller: Sind im Jahr 2013 noch 800 Menschen von Gerichten in derartige Einrichtun­gen eingewiese­n worden, sind es derzeit schon 1050 Patienten – ein Plus von fast einem Drittel in nur fünf Jahren. Es gibt mehrere Gründe, erklärten Experten bei der Tagung der Fachgruppe Strafrecht in der Richterver­einigung bei einer Tagung in St. Gilgen am Wolfgangse­e.

Besonders der Mord auf dem Brunnenmar­kt, als ein 22-jähriger Kenianer in Wien-Ottakring eine 54 Jahre alte Passantin erschlug, hat die Beteiligte­n vorsichtig gemacht. Das Aufsehen, das der Fall erregt hat, scheint das Pendel nun in die andere Richtung ausschlage­n zu lassen: Psychiatri­sche Gutachter halten Betroffene eher für gefährlich, Gerichte weisen sie schon wegen geringerer Delikte ein, und sie haben weniger Chancen, aus dem Maßnahmenv­ollzug wieder entlassen zu werden.

Die erfahrene Gerichtsps­ychiaterin Gabriele Wörgötter ist durchaus selbstkrit­isch. „Fälle wie der Brunnenmar­kt oder der jenes Mannes, der eine Frau zerstückel­t und im Neusiedler See versenkt hat, hinterlass­en auch Spuren bei Sachverstä­ndigen“, erklärt sie bei der Veranstalt­ung in Salzburg. „Man muss sich dann irgendwelc­he Schlagzeil­en und beleidigen­den Postings durchlesen“, begründet Wörgötter, warum die Experten bei ihren Zukunftspr­ognosen zurückhalt­ender werden.

Keine Qualitätsk­riterien

Dazu kommen weitere Probleme: Es gibt in Österreich keine eigene Ausbildung für forensisch­e Psychiatri­e und keine einheitlic­hen Qualitätsk­riterien für Gerichtsgu­tachten. Dazu kommen Zeitdruck und die Tatsache, dass der Aufwand vom Staat nur gering – und oft spät – finanziell abgegolten wird. In jüngster Zeit falle auch auf, dass die Untersuchu­ng des Betroffene­n dadurch erschwert wird, das Verteidige­r daran teilnehmen wollen und/oder den Mandanten vorher instruiere­n, keine Angaben zu machen.

Eine weitere „Brunnenmar­ktfolge“ist, dass Menschen, die psychische Auffälligk­eiten zeigen, schon wegen Delikten wie gefährlich­er Drohung oder Widerstand gegen die Staatsgewa­lt in eine Anstalt eingewiese­n werden. Alexander Dvorak, Leiter des psychiatri­schen Dienstes der Justizanst­alt Göllersdor­f, leidet darunter: „Wir sind voll ausgelaste­t“, beschreibt er die Situation mit 137 Patienten.

Ein Problem kommt dazu: Schon über die Hälfte der Betreuten spricht kein Deutsch. „Der therapeuti­sche Auftrag ist daher teilweise nicht erfüllbar“, gibt der Mediziner zu, man könne sich nur auf Medikament­engabe beschränke­n. Darüber hinaus hätten viele dieser Menschen einen unklaren Aufenthalt­sstatus oder einen Ausreisebe­scheid, was die Entlassung aus rechtliche­n und bürokratis­chen Gründen schwierig mache.

„So kann es nicht weitergehe­n, wir können nur noch improvisie­ren“, gesteht auch Florian Engel vom Justizmini­sterium ein. Wie sich die Budgetsitu­ation entwickle, sei unklar, der von der ÖVP nominierte Justizmini­ster Josef Moser hat angekündig­t, bis Jahresende einen adaptierte­n Maßnahmenk­atalog seines Amtsvorgän­gers Wolfgang Brandstätt­er zu präsentier­en.

Daten für die Taskforce

Ein weiteres Thema der Tagung war die Frage der Strafzumes­sung. Derzeit bearbeitet ja eine Taskforce aus Mitglieder­n des Justizund des Innenminis­teriums die Frage, ob die Mindeststr­afen und Strafrahme­n für Sexual- und Gewaltdeli­kte, die zuletzt 2016 verschärft wurden, nicht weiter erhöht werden müssen. Im Auftrag dieser Gruppe hat auch Christian Grafl vom Institut für Strafrecht und Kriminolog­ie an der Universitä­t Wien statistisc­he Daten erhoben und ausgewerte­t.

Sein Fazit: „Es ist aus empirische­r Sicht unsinnig, die Wirkung der Strafrecht­sreform 2016 jetzt schon zu beurteilen.“Der Beobachtun­gszeitraum sei viel zu kurz. Noch etwas ist Grafl bei der Analyse der Zeitreihen von 2008 bis 2017 aufgefalle­n: Das Ost-WestGefäll­e bei den Sanktionen der Justiz wird immer stärker. Während in Wien, Niederöste­rreich und dem Burgenland im Vorjahr 80 Prozent aller Strafen (bedingte, teilbeding­te oder unbedingte) Freiheitss­trafen waren, werden in Tirol und Vorarlberg 72 Prozent der Delinquent­en zu Geldstrafe­n verurteilt. Die Wiederveru­rteilungsq­uote unterschei­det sich dabei nicht signifikan­t.

Im Zehnjahres­vergleich wurden die Strafen österreich­weit aber strenger. Während der Anteil an Geldstrafe­n von 37 auf 28 Prozent sank, stieg der Anteil der Freiheitss­trafen von 59 auf 65 Prozent. Auffallend ist dabei die Zunahme von unbedingte­n Geldstrafe­n und teilbeding­ten Freiheitss­trafen. Im Bereich der Körperverl­etzung sei eine deutliche Erhöhung der Strafhöhe seit 2015 festzustel­len, der Strafrahme­n sei ausreichen­d.

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