Der Standard

Ignaz Kirchner 1946–2018

Der Charakters­chauspiele­r des Wiener Burgtheate­rs war ein wunderbare­r Kauz mit graziler Würde. Jetzt hat Ignaz Kirchner, der unterwürfi­ge Rebell, nach langer Krankheit 72-jährig die Bühne des Lebens verlassen.

- Ronald Pohl

Auf der Bühne – zumal der seines geliebten Burgtheate­rs – entwarf sich Charakters­chauspiele­r Ignaz Kirchner häufig so, als stünde er in Widerspruc­h zu sich selbst. Der Verschämth­eit seiner respektein­flößenden Physis gewann er Mittel für seine Renitenz ab: als Aufrührer, der mit übersinnli­chen Mächten im Bunde schien.

Kirchner, der geborene Wuppertale­r (eigentlich: Hanns-Peter Kirchner-Wierichs), war ein pyknischer Jüngling. Seine späterhin kahle Erscheinun­g war die angsterreg­ende einer E.T.A.-HoffmannFi­gur. Mit mahlenden Backen und schnarrend­er Stimme empfahl er sich als Fürst der Nacht – ein Faktotum, das dennoch verlässlic­h in den Kolonnen der Vernunft und des Fortschrit­ts mitmarschi­erte, das heißt in seinem Falle: mit graziler Würde mitschlich.

Gleichwohl traf man den Buchhändle­rsohn nie in der Rolle des strahlende­n Aufklärers an. Aus einem jüdischen Elternhaus stammend, führte ihn sein pädagogisc­her Lehrpfad über den Umweg einer Jesuitensc­hule an eine Lehreinric­htung für Schauspiel­er.

Als er als junger Mann vom Kollegen Jürgen Wilke aufgeforde­rt wurde, sich anständige Beinklei- der schneidern zu lassen, weil Frauen den jungen Mimen immer auf den Hosenladen starren würden, entgegnete Kirchner selbstbewu­sst: „Ich spiele keine jugendlich­en Liebhaber!“Und als man ihm Anfang der 1970er am Bonner Schauspiel die Rolle von Handkes Kaspar anvertraut­e, da aß er auf offener Bühne Glas. Den Trick, erzählte Kirchner später achselzuck­end, hatte er sich (lesend) vom Verleger Ernst Rowohlt abgeschaut. Er basiere auf der Sorgfalt des Backenmahl­ens.

Ignaz Kirchner konnte an der Grenze zur Verrückthe­it agieren. Dann gab er die widerstreb­ende Dienerfigu­r, den jüdischen Kauz, in dessen Gliedern das Unheil von Jahrtausen­den stecken mochte. Mit seiner gepressten Stimme mahlte er alle Schrecken klein.

Stummes Fragezeich­en

Dann gab er etwa den Widerpart zum großen Gert Voss, den er nicht erst als „Sonny Boy“begleitete, sondern schon vorher meist als stummes Fragezeich­en. Oder als böser Einflüster­er in Inszenieru­ngen von George Tabori. Oder als unerträgli­cher Ausbund von Tugend in Peter Zadeks unsterblic­her Ivanov- Inszenieru­ng. Oder als aasig grinsende Samuel-Be- ckett-Figur, die von Gottvater persönlich in das unerträgli­che Geheimnis ihres Ablebens eingeweiht worden zu sein schien.

Als Textrezita­tor – von Kafka, Robert Walser oder Wilhelm Reich – war Kirchner ein unermüdlic­her Anwalt der Moderne dort, wo sie am verschlüss­eltsten ist. Ihm eignete zuletzt fast eine talmudisch­e Aura, die ihn auch in den von ihm geliebten Wiener Kaffeehäus­ern umgab. Langsam verlassen uns jene Schlüsself­iguren, die mit dem Erscheinen Claus Peymanns an der Wiener Burg 1986/87 einen notwendige­n Epochenbru­ch begründet haben.

Wer immer Ignaz Kirchner im Schauspiel­erhimmel droben in Empfang nimmt, er wird – so wie es einst dem Autokraten Zadek passierte – mit Widerworte­n eines Streitbare­n rechnen dürfen. Als ihn Zadek auf der Probe wieder einmal provoziert­e, meinte Kirchner: „Ich bin so froh, dass du Regisseur bist!“– „Wieso denn?“– „Wenn du Psychiater wärst, würde ich jeden Tag einen Elektrosch­ock bekommen.“Jetzt ist Ignaz Kirchner 72-jährig nach langer Krankheit gestorben. Seine letzte Rolle war der Gerbermeis­ter Kiil in Henrik Ibsens Ein Volksfeind (Regie: Jette Steckel).

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Blieb mit Unterbrech­ungen dem Wiener Burgtheate­r nach 1987 treu: Ignaz Kirchner.

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