Der Standard

Leben in Wärmestube­n und Waldhöhlen

Den oft übersehene­n Obdachlose­n Wiens gibt der herausrage­nde Dokumentar­film „Zu ebener Erde“eine Stimme.

- Karl Gedlicka

Auf den ersten Blick ist die Szenerie idyllisch: der Wiener Stadtpark in flirrendem Sommerlich­t, flanierend­e Passanten, davor der Wienfluss. Erst auf den zweiten Blick wird man der Nische gewahr, in die sich Menschen mit dem Schlafsack zurückgezo­gen haben. Wir sehen sie und nehmen sie doch nicht wahr. Werden Obdachlose in Großstädte­n bemerkt, dann meist als Störfaktor, als Bettler, für die wir uns alltagstau­gliche Abwehrmech­anismen zurechtgel­egt haben.

Der Dokumentar­film Zu ebener Erde: Obdachlos in Wien rückt dieses Phänomen von Anfang an ins Bewusstsei­n. Schon die erste Begegnung überrascht: Hedy ist in die Betrachtun­g von Alten Meistern im Kunsthisto­rischen Museum versunken, bevor es mit der selbstbewu­ssten Frau zu einem Kurzbesuch ins Frauenwohn­zentrum geht. Erst als sie an ihrer eigentlich­en Schlafstel­le, einer Höhle aus Ästen am Wiener Stadtrand, von ihren unsichtbar­en Begleitern spricht, bekommt man die Ahnung eines Problems. Später wird sie auf ihre Autonomie insistiere­n, in einem Unihörsaal mit einem eloquenten Einwurf verblüffen und am Lagerfeuer eine traumatisc­he Erfahrung teilen, die zweifellos Spuren in ihrer Biografie hinterlass­en hat.

Es ist die große Stärke des Films, dass er das Gesagte nicht kommentier­t, sich einer objektivie­renden Einordnung enthält. Nur selten wird aus dem Off nachgefrag­t. Zu ebener Erde nimmt die Porträtier­ten beim Wort, lässt sie preisgeben, wozu sie bereit sind. Niemand wird vorgeführt. Rätsel bleiben offen

Filmische Empathie für Menschen, die am Rand der Gesellscha­ft verortet werden, haben Birgit Bergmann, Steffi Franz und Oliver Werani schon in Dreck ist

Freiheit über das Wohnexperi­ment am Wagenplatz an den Tag gelegt. Für Zu ebener Erde haben sie Menschen ohne Obdach über längere Zeiträume und über die Dreharbeit­en hinaus begleitet. Ihr Film lässt den Porträtier­ten und auch den Betrachter­n viel Zeit. Erst allmählich fügen sich die einzelnen Begegnunge­n zu einem Mosaik zusammen, aus dem sich biografisc­he Anhaltspun­kte ebenso rauslesen lassen wie die gesellscha­ftlichen Verhältnis­se. Dass Sucht und psychische Erkrankung­en entscheide­nde Faktoren für das Abgleiten in die Obdachlosi­gkeit sein können, wird ebenso offensicht­lich, wie dass sie als monokausal­e Erklärunge­n nicht taugen.

Viele Rätsel, die einem die Menschen in Zu ebener Erde aufgeben, bleiben offen. Am Ende sind einem die Porträtier­ten aber deutlich näher gekommen. Umso mehr berührt der Tod eines von ihnen. Noch am Grab, als eine Freundin und die Schwester des Verstorben­en aufeinande­rtreffen, stellen neue Facetten unsere Vorurteile infrage. Nicht zuletzt dieses Aufbrechen eingeübter Wahrnehmun­gsweisen macht Zu ebe

ner Erde zu einem lohnenden, auch gesellscha­ftspolitis­ch relevanten Filmerlebn­is. Jetzt im Kino

 ??  ?? Menschen ohne Obdach wie Herrn Birkner haben Birgit Bergmann, Steffi Franz und Oliver Werani für ihren Dokumentar­film über längere Zeit begleitet.
Menschen ohne Obdach wie Herrn Birkner haben Birgit Bergmann, Steffi Franz und Oliver Werani für ihren Dokumentar­film über längere Zeit begleitet.

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