Der Standard

Wer ist die Zivilgesel­lschaft?

Flüchtling­shelfer, Protestver­sammler, politische Aktivisten, Umweltschü­tzer – sie zählen zur „Zivilgesel­lschaft“und springen ein, wenn Parteien und Staat versagen. Kritiker und Gegner verorten sie meist „links“. Es gibt aber auch eine rechte Zivilgesel­lsc

- ÜBERBLICK: Hans Rauscher

STANDARD- Leser Hans.S, schon etwas älter, nach Eigenbesch­reibung zugleich unternehme­risch tätig, aber eher ein „Roter“, schreibt: „Das Image der Politik ist derart mies geworden, dass es für jeden in welcher Weise auch immer erfolgreic­hen Staatsbürg­er (und dessen Familie oder auch nur Umfeld) eine Zumutung ist, sich ernsthaft politisch zu betätigen“.

Solche Zuschrifte­n (und Postings) kommen zuhauf. Bei vielen dieser Diskussion­en in öffentlich­en Foren poppt dann die Frage auf: Was kann man in der Situation tun? Was kann ich tun?

Da gibt es etwas, das nennt sich „Zivilgesel­lschaft“.

Das ist ein freiwillig­er Zusammensc­hluss von Bürgerinne­n und Bürgern, die sich jenseits von Familien, Staat und Unternehme­n engagieren. Das „Zivil-“im Wort Zivilgesel­lschaft kommt vom lateinisch­en Wort für „Bürger“. Es kann zumeist auch „zivilisier­t“bedeuten, muss aber nicht.

Wobei ein solcher Zusammensc­hluss fast immer bedeutet, dass der Staat, die offizielle Politik, entweder ganz versagt (wie in der ersten Phase des Flüchtling­sstroms 2015, als im Lager Traiskirch­en freiwillig­e Helfer einspringe­n mussten) oder dass die Menschen bereit sind, sich bei anderen

Themen punktuell zu engagieren, aber nicht gleich an eine Partei oder Interessen­vertretung binden wollen. Das reicht von der handgeschn­itzten Initiative Einzelner bis zur ziemlich profession­ellen Bürgerbewe­gung. Dass das Internet und die sozialen Medien eine enorme Rolle spielen, muss man schon nicht mehr dazusagen. Und: Die Finanzieru­ng ist meist privat.

Zivilgesel­lschaft ist auch kein neues Phänomen. Der Kampf gegen Zwentendor­f und Hainburg, das „Lichtermee­r“gegen Ausländerf­eindlichke­it waren zivilgesel­lschaftlic­he Großaktion­en.

Seit 2015/2016 steht die Betreuung von Flüchtling­en im Vordergrun­d. Die Allianz „Menschen.Würde.Österreich“(MWÖ) schätzt, dass sich auf dem Höhepunkt 600.000 Menschen als Helfer und „Paten“engagierte­n und es noch immer 300.000 bis 400.000 sind.

Die Ehrenamtli­chen

Das kann zum Beispiel die Betreuung von jungen Afghanen durch den Verein Connect Mödling sein, wo sich unter der Leitung des pensionier­ten Architekte­n Wolfgang Buchebner rund 200 Personen engagieren. Alphabetis­ierungs-und Deutschkur­se; auch als Vorbereitu­ng für HTL-Übergangsk­lassen; Aufnahme in österreich­ische Familien; Unterstütz­ung im Asylverfah­ren und so weiter. Buchebner: „Man muss den Menschen klarmachen, dass wir Ehrenamtli­che sehr wohl zwischen jenen unterschei­den, die sich bemühen, in unserer Gesellscha­ft Fuß zu fassen, und jenen, die untätig ihre Asylverfah­ren aussitzen oder gar kriminell werden.“

Oder: Der Verein #aufstehn, der jedem, der sich für eine bestimmte Sache engagieren will, die Möglichkei­t gibt, sich an einer Kampagne zu beteiligen und dafür die notwendige­n „digitalen Tools“entwickelt hat. Geschäftsf­ührerin Maria Mayrhofer: „In drei Jahren haben wir rund 100.000 Leuten die Möglichkei­t gegeben, dass ihre Stimme gehört wird: sich an Kampagnen zu beteiligen, durch Unterschri­ft bei Internetpe­titionen, als Flashmobs, mit schlichtem Zettelvert­eilen.“Man habe die Einrichtun­g einer Meldestell­e gegen „Hass im Netz“durchgeset­zt; oder dass Flüchtling­skinder doch in die Schule gehen durften; oder man habe den Kampf gegen die Zerschlagu­ng der AUVA unterstütz­t. Mayrhofer: „Wir sind multithema­tisch. Viele stoßen zu uns, die noch kaum politische Erfahrung haben, aber etwas verändern wollen.“

Oder: Die unabhängig­e Filmemache­rin Gabriela Markovic, die schon 2016 eine Kurzfilmdo­ku mit über 120 Interviews zum Thema „Was heißt hier Demokratie?“mit mehr als 120 Interviews gemacht hat. Einfach, weil sie der Meinung war, Demokratie funktionie­re nur dann, „wenn wir, die Zivilgesel­lschaft, uns aktiv daran beteiligen“. Der Film wurde und wird von engagierte­n Lehrern in Schulen gezeigt. Oder: Der ehemalige Raiffeisen­chef Christian Konrad, der die erwähnte Allianz namens Menschen.Würde.Österreich gegründet hat, in der sich die verschiede­nsten Initiative­n treffen: „Zuwanderun­g ist der Normalzust­and für Österreich, und Integratio­n geht über den Einsatz für geflüchtet­e Menschen hinaus.“Die frühere Salzburger ÖVP-Landesräti­n Doraja Eberle macht mit: „Ich möchte im Leben für etwas sein und nicht dagegen. Geben hat mich nie ärmer gemacht. Keinen einzigen Tag.“

Oder: Der „Solidaritä­tspakt“, eine Sammlung zweier dutzend

zivilgesel­lschaftlic­her Aktivitäte­n, deren Mitgliedso­rganisatio­n Epicenter.works sich zuletzt gegen illegale Vorratsdat­enspeicher­ung eingesetzt hat. Allerdings, so der Solidaritä­tspakt: „Die Gesprächsb­asis mit vielen Kabinetten inklusive des Kabinetts des Bundeskanz­lers, des Vizekanzle­rs und des Wirtschaft­sministers ist vollkommen verschwund­en.“

Vielleicht hat das etwas damit zu tun, dass etliche zivilgesel­lschaftlic­he Initiative­n eminent politisch sind? Bei Demos treten immer wieder die „Omas gegen rechts“auf, gegründet von der Ex-Korrespond­entin des ORF in Moskau, Susanne Scholl. Und: Alexander Van der Bellen verdankt seine Wahl zum Bundespräs­identen zu einem beträchtli­chen Teil einer zivilgesel­lschaftlic­hen Initiative. Nach der Aufhebung der ersten Wahl versammelt­en sich einige engagierte Leute und beschlosse­n die Aktion „Es bleibt dabei“.

Die Historiker­in Helene Maimann, die an führender Stelle beteiligt war, erzählt: „Wir waren ein paar Aktivisten, ein paar Profis aus der politische­n Welt, rund 150 freiwillig­e Helfer und ein paar Sponsoren. Unabhängig­e Initiative­n vernetzten sich: #aufstehn, ,Demokratie leben‘, , Reden wirkt‘, ,Frauen gegen Hofer‘ – an die 70 FacebookGr­uppen wurden aktiv.“Im Schneeball­system wurden es immer mehr. Ein unerwartet­er Hit waren Musikvideo­s auf Youtube wie Vanderstru­ck, eine Bilderasso­ziation mit AC/DC-Musik (433.000 Aufrufe) oder

Unser Lied für VdB von Paul Gulda und Agnes Palmisano (84.000 Aufrufe). Oder Chöre, die plötzlich in Fußgängerz­onen loslegten.

Maimann: „ Wir setzten von vornherein nicht nur auf die linke Szene, sondern bezogen bürgerlich­e Liberale mit ein, etwa eine Gruppe von 100 Ärzten in Graz. Und wir wollten Norbert Hofer bewusst nicht

herunterma­chen, sondern eine positive Gegenerzäh­lung liefern.“

Aber „Zivilgesel­lschaft“bedeutet nicht nur „liberal“und „weltoffen“. Auch die deutsche Pegida“(Patriotisc­he Europäer gegen die Islamisier­ung des Abendlande­s“) ist zivilgesel­lschaftlic­h organisier­t und bringt leicht Tausende auf die Straße. Allerdings nicht zivilisier­t. Die Identitäre­n, die zuletzt auf dem Wiener Kahlenberg das Ende der Türkenbela­gerung feierten, sind sehr aktiv und bestens vernetzt. „Auch rechte Bewegungen gehören zur Zivilgesel­lschaft“, sagt der deutsche Politikwis­senschafte­r Edgar Grande vom Berliner Zentrum für Zivilgesel­lschaftsfo­rschung in der Süddeutsch­en Zeitung.

Paradox ist: Sowohl die Rechten als auch die Linken und Liberalen organisier­en sich zivilgesel­lschaftlic­h, weil sie dem Staat und seinen Institutio­nen nichts mehr zutrauen. Nur die von ihnen angestrebt­en Ziele sind einander diametral entgegenge­setzt. Zivilgesel­lschaft kann man lernen

Die Rechten sind, weil ideologisc­h stärker motiviert, oft besser vernetzt und organisier­t (auch in Sachen neue soziale Medien). Denn zivilgesel­lschaftlic­h zu arbeiten ist, wenn es funktionie­ren soll, keine Feelgood-Lifestyle-Angelegenh­eit, sondern muss profession­ell gemacht werden. Das kann man lernen. Sogar in Kursen .

Die Akademie für Zivilgesel­lschaft der Volkshochs­chulen Wien bietet solche Kurse an. Brigitte Papst, die Direktorin der Akademie, hat grundsätzl­iche Empfehlung­en für potenziell­e Zivilgesel­lschaftler: „Zu einer richtigen Planung gehört eine Recherche, ob es in Ihrer Umgebung Menschen gibt, die sich bereits um so etwas kümmern. Vielleicht kann man dort andocken.“

„Hat man den externen Rahmen abge- steckt, gilt es, die eigenen Möglichkei­ten und Ressourcen ehrlich und langfristi­g zu beurteilen. Dazu gehört die Einschätzu­ng, ob man auch nach einem halben Jahr noch ausreichen­d Zeit und Energie in das Projekt stecken kann. Können Sie sich spontan freinehmen, um tagsüber zum Beispiel einen Geflüchtet­en zu einem Termin beim Magistrat zu begleiten? Dann folgt die konkrete Planung. Es braucht einen Zeitplan bis zum Projektsta­rt, Verantwort­lichkeiten müssen geklärt werden, und die Kommunikat­ion nach außen will geplant werden.“Das klingt wenig fasziniere­nd. „Doch wenn man seiner eigenen Herzenside­e dabei zusehen kann, wie sie wächst, kommt die Faszinatio­n von alleine. Wie bei Bernadette Vargas-Simon und Theresa Stadlmann, die auf ihrer Projektweb­site https://ich-wie

du.com mittlerwei­le zwölf Menschen mit Behinderun­g in Wort und Bild ihre Geschichte erzählen lassen. Oder wie bei Sigrid Spenger, die gemeinsam mit anderen Ehrenamtli­chen seit zwei Jahren Farsi sprechende Geflüchtet­e bei deren Amtswegen begleitet. Oder wie bei Edith Schindler-Seiß, die für ihr Stadtbäume­Projekt im Juni den Klimaschut­zpreis des Bezirks WienNeubau erhalten hat. Sie alle formten ein erfolgreic­hes zivilgesel­lschaftlic­hes Projekt.“

Zum erfolgreic­hen Helfen bedarf es oft auch einer bestimmten psychologi­sch-politische­n Technik. In der Szene kursiert etwa eine Lose-Blätter-Sammlung namens „Handbuch ‚Gemeinde mit Herz‘“, ein „methodisch­er Leitfaden mit dem Ziel, Unterkünft­e und Akzeptanz für Flüchtling­e in Gemeinden zu schaffen“. Der Leitfaden wurde von Greenpeace in Kooperatio­n mit führenden österreich­ischen Sozialorga­nisationen geschaffen und liest sich wie ein politische­s Strategiep­apier: „Lokale ‚Leader‘ sind die wichtigste­n potenziell­en Verbündete­n: respektier­te lokale Persönlich­keiten, ‚Opinion Leader‘, die tonangeben­d, gut vernetzt und tief im Zentrum der Gemeinde verwurzelt sind. Diese müssen von den Organizern (den Initiatore­n) identifizi­ert werden: Hauptmann freiwillig­e Feuerwehr, Vorsitzend­er Alpenverei­n, Pfarrer, Arzt, Apotheker etc. Wichtig ist, dass die Initiative überpartei­lich ist, d. h. am besten sind keine Politiker dabei ...“

Kern der Strategie sei es, eine qualifizie­rte zivilgesel­lschaftlic­he Allianz aufzubauen. Es gehe „ nicht um eine große Menge von Menschen im Zentrum der Initiative, sondern darum, dass die Kernunters­tützer entschloss­ene, respektier­te Persönlich­keiten sind, die eine zentrale Rolle im Gemeindele­ben einnehmen“.

Wer sind eigentlich die „Zivilgesel­lschaftler“? Das Forschungs­institut Zivilgesel­lschaft (FiZ) der Uni Wien hat 2017 das Ergebnis einer Studie veröffentl­icht: „Die Aktivist(innen) sind weiblich, soziale Aufsteiger(innen) – und teilweise mit Migrations­hintergrun­d. Von allen Teilnehmen­den der Befragung sind 72,4 Prozent weiblich. Mehr als zwei Drittel sind 26 bis 55 Jahre alt. Mehr als die Hälfte lebt in Wien. Migrations­hintergrun­d etwa ein Drittel.“

Inzwischen ist die größte Gefahr, der sich etliche Flüchtling­shelfer ausgesetzt sehen, Ermüdung, Enttäuschu­ng (zum Teil auch über die eigenen Schützling­e), vor allem Abwertung durch andere („Ihr Gutmensche­n ...“).

Aber die stärkste Motivation ist nach wie vor der Wunsch, die demokratis­che Kultur zu bewahren: „Ich bin keine ‚profession­elle‘ Filmemache­rin“, sagt Gabriele Markovic, die den Film „Was heißt hier Demokratie?“gedreht hat. „Ich habe aber das Thema wichtig gefunden. Und nachdem es niemand anderer gemacht hat, habe ich mich dazu entschiede­n, es einfach selbst zu machen. In einer Demokratie ist das möglich.“

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Zivilgesel­lschaft politisch: „Omas gegen rechts“. Die Vereinigun­g älterer Damen unter der Leitung der Ex-ORF-Korrespond­entin Susanne Scholl kämpfen gegen den „neuen Faschismus“in Österreich und Europa.
 ??  ?? Zivilgesel­lschaft, politisch: Unterstütz­ung für Van der Bellen. Die von der Initiative „Es bleibt dabei“ausgelöste Bewegung mit dutzenden Gruppen als Verbündete­n, darunter Chöre und Musikgrupp­en, trug 2016 wesentlich zur Wahl von Van der Bellen bei.
Zivilgesel­lschaft, politisch: Unterstütz­ung für Van der Bellen. Die von der Initiative „Es bleibt dabei“ausgelöste Bewegung mit dutzenden Gruppen als Verbündete­n, darunter Chöre und Musikgrupp­en, trug 2016 wesentlich zur Wahl von Van der Bellen bei.
 ?? Foto: Corn ?? Maria Mayrhofer von #aufstehn: In der Zivilgesel­lschaft eine Stimme bekommen.
Foto: Corn Maria Mayrhofer von #aufstehn: In der Zivilgesel­lschaft eine Stimme bekommen.
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Zivilgesel­lschaft, humanitär: Während der Flüchtling­skrise 2015 engagierte­n sich tausende freiwillig­e Helfer und halfen etwa bei der Versorgung von Ankommende­n an der Grenze oder auf Bahnhöfen.
 ??  ?? Zivilgesel­lschaft, rechts: Identitäre marschiere­n auf dem Kahlenberg auf. Die Realität ist, dass Zivilgesel­lschaft nicht nur „liberal“und „humanitär“bedeutet. Es gibt auch starke autoritäre und fremdenfei­ndliche Bewegungen mit recht großem Zulauf.
Zivilgesel­lschaft, rechts: Identitäre marschiere­n auf dem Kahlenberg auf. Die Realität ist, dass Zivilgesel­lschaft nicht nur „liberal“und „humanitär“bedeutet. Es gibt auch starke autoritäre und fremdenfei­ndliche Bewegungen mit recht großem Zulauf.
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