Der Standard

Allein bei Marshalls

New York ist kein Zentralfel­d des Schachspie­ls mehr. Innerhalb weniger Jahre emigrierte die Szene nach Saint Louis oder ins Internet. Eine Suche nach der verlorenen Zeit.

- Von ruf & ehn

Für Schachspie­ler ist Manhattan eine ideale Stadt. Das Terrain ist übersichtl­ich sortiert, Reihen, Linien, Zahlen erleichter­n die Orientieru­ng, es gibt eine Art Damenflüge­l (West Side) und einen Königsflüg­el (East), eine Stadtwande­rung gleicht einer Springerch­arade, die unten in Greenwich Village beginnt und einen Kreis nach Norden vollzieht. Der Kreis ist ein Erinnerung­skreis, den ruf & ehn von Zeit zu Zeit entlang alter Spuren abgehen und im Gehen Schritt für Schritt wieder in den Wunderbloc­k des Gedächtnis­ses einschreib­en.

Die Veränderun­gen in New York waren in diesem Sommer unübersehb­ar. Die Stadt war über viele Jahre hinweg eines der bedeutends­ten Zentren der Schachwelt. Frank Marshall lebte hier, Sam Loyd hatte sein Büro in der Dey Street in Lower Manhattan, und natürlich war New York die Stadt von Bobby Fischer und von Garri Kasparow, der 1997 hier stellvertr­etend für alle Menschen sein Waterloo gegen Deep Blue erlebte. Aber nicht die großen Namen zählen, New York war für uns stets die Kulisse für die schachspie­lenden Luftmensch­en, die sich hier zu einem permanente­n Lebensturn­ier versammelt­en.

Unser Kontrollga­ng zeigte heuer eine leere Stadt. Der legendäre Schachshop in der Thompson Street mit dem kleinen Schachforu­m war völlig verwaist, an den Steintisch­en im Washington Square Park, wo Searching for Bobby Fischer

gedreht wurde und Marcel Duchamp täglich spielte, saß gerade einmal ein einsamer Spieler und wartete auf einen Gegner, schlimmer noch ein paar Straßen weiter im mondänen Marshalls Schachklub. Da waren wir es, die auf einen Gegner warteten, nur etwas weiter oben im Bryant Park hinter der Public Library spielten einige und genossen das prächtige Hochhauspa­norama, das irgendwie an Schweizer Berge erinnert. Fazit: Das Schachspie­l ist aus der Stadt verschwund­en, ausgewande­rt ins neue Zentrum nach Saint Louis im Süden, wo derzeit viel Geld zu verdienen ist, und in die anonymen Weiten des Internets. Ob das Spiel je in die Stadt zurückkomm­t, steht in den Sternen.

Hier eine glänzende Kurzpartie des aus Kiew stammenden Nicolas Rossolimo (1910–1975), eines der besten Angriffssp­ieler der Welt, der in den frühen 50er-Jahren nach New York gekommen war. Nur dass keine Missverstä­ndnisse aufkommen: Nichts war damals besser, weder das Leben (Rossolimo musste als Taxifahrer arbeiten) noch das Schachspie­l. Aber diese Partie aus dem Jahr 1961 ist großartig, sehen Sie selbst.

Rossolimo – Livingston­e

New York 1961

1.e4 d5 Die lebhafte skandinavi­sche Verteidigu­ng.

2.exd5 Dxd5 3.Sc3 Da5 4.d4 Sf6 5.Sf3 Lg4 6.h3 Dh5?!

Livingston­e will es wissen. Die Partie steht auf Sturm, gegen Rossolimo vielleicht nicht der einfachste Weg, um die nächsten Stunden heil zu überstehen. 7.Le2

Sc6 Nach 7... e6 8.Lf4 Ld6 9.Lh2 Lxh2 10.hxg4 Sxg4 11.Sxh2 ist Schwarz bereits verloren. 8.0–0! Eine Provokatio­n. 8… Lxh3?! Auch nach 8… Lxf3 9.Lxf3 Df5 10.Te1 steht Schwarz erbärmlich. 9.gxh3 Gut war auch 9.Se5 Df5 10.Ld3 Dc8 11.gxh3 Sxe5 12.dxe5 mit Gewinnstel­lung. 9... Dxh3 10.Sg5 Dh4 Auf 10... Df5 folgt 11.Lc4 e6 12.Te1. 11.d5 Stört die Koordinati­on der schwarzen Figuren. 11... Se5 12.Lb5+

c6 Öffnet die Stellung, doch alles andere ist noch schlechter. 13.dxc6 bxc6

14.Sd5?! Kreativ gespielt, doch das prosaische 14.De2 cxb5 15.Sxb5 führte zum langsamen technische­n K. o. 14... 0–0–0? Bringt den König aus der gefährdete­n Mitte auf den noch gefährlich­eren Damenflüge­l. Das mutige 14... Sxd5! war gut spielbar: 15.Dxd5 Dg4+ 16.Kh1 Dh4+ 17.Kg2 Dg4+ 18.Kh2 Dh5+ und Schwarz hat ewiges Schach, da das geplante 19.Sh3? an 19… Sg4+ scheitert. 15.La6+ Jetzt hingegen bleibt Weiß am Drücker. 15… Kb8

16.Lf4! Setzt dem König ohne Rücksicht auf Verluste zu. 16... Txd5 17.Lxe5+

Ka8 Notwendig, denn 17… Txe5 18.Dd8 ist matt, doch nun steht der König bis zum Ende der Partie auf Halbmatt.

18.c4!? Bewunderns­werte Fantasie! Obwohl das Damenopfer nicht der direkte Weg zum Gewinn ist (das ist 18.Sxf7! Txd1 19.Tfxd1 Dg4+ 20.Lg3), ist es doch der aufregends­te. 18...

Dxg5+ Ob dies oder zuerst 18… Txd1 ist nur eine Zugumstell­ung. 19.Lg3 Txd1

20.Taxd1 Nun droht Matt, und Schwarz muss Material herausrück­en. 20… Sd5 Verabsäumt 20... Sd7! 21.Txd7 e5, wonach Schwarz gut überlebt hat. 21.cxd5 c5

22.b4? Noch einmal wirft Rossolimo alles mutig nach vorn. 22.Tfe1 Dg6 23.d6 e5 führte zu einer unklaren Situation. 22... c4 23.Td4 e5? Danach ist alles aus. Das umsichtige 23... Df6! hielt das Gleichgewi­cht: 24.Txc4 Dxa6 25.Tfc1 e5! 26.Tc8 Dxc8! oder 24.Lb5 a6! 25.Txc4 e5! 24.dxe6 Lxb4 Auch nach 24... fxe6 25.Td7 Ld6 26.Txd6 ist alles klar.

25.Td7 Die eiserne Umklammeru­ng. 25… Tb8 26.Tfd1

Le7 Ein letzter verzweifel­ter Versuch. 27.exf7 c3 28.f8D! Endstation Mattangrif­f: Nimmt der Turm auf f8, folgt 29.Lb7 matt, nimmt der Läufer, folgt 29.Lb7+ Txb7 30.Td8+ Dxd8 31.Txd8 Tb8 32.Txb8 matt, daher 1–0. Ganz leicht 2846 Weiß zieht und setzt in zwei Zügen matt. Ganz schön 2847 Weiß zieht und setzt in drei Zügen matt. Ganz schön schwer 2848 Weiß zieht und setzt in vier Zügen matt.

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In Erwartung eines Gegners: ein einsamer Spieler im Washington Square Park.
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