Der Standard

„Wir müssen den Ärger der Leute nutzen“

Innerhalb nur weniger Jahre wurde „Jacobin“in den USA zur wichtigste­n linken Publikatio­n einer neuen Generation. Herausgebe­r Bhaskar Sunkara erklärt im Gespräch, warum man keine Scheu vor Populismus haben sollte.

- Dominik Kamalzadeh

Selbst wenn man mit Karl Marx nicht vertraut ist, sollte man dennoch in der Lage sein, sein Magazin zu lesen, sagt Bhaskar Sunkara. 2010 hat der damals 21-jährige Geschichts­student Jacobin gegründet, ein Magazin, das sich mit cooler Optik und gut lesbaren, polemische­n Texten von theorielas­tigen sozialisti­schen Zeitschrif­ten abgrenzte. Mittlerwei­le gilt die vierteljäh­rlich erscheinen­de Publikatio­n als eine der führenden Stimmen der USLinken, als Denkfabrik einer neuen Generation. Bei Suhrkamp ist nun eine Anthologie erschienen, die mit ausgewählt­en Essays einen Überblick über die thematisch­e Bandbreite gibt: vom „ZombieMarx­ismus“über die Gründe des Erfolgs von „The Donald“bis zu Fragen der umkämpften Identitäts­politik. Bei einem Wien-Besuch trafen wir den denkschnel­len Herausgebe­r zum Gespräch.

STANDARD: Welche Faktoren haben den Erfolg von „Jacobin“mitbestimm­t? Gab es ein bestimmtes Momentum?

Occupy und ähnliche soziale Bewegungen haben die Politik wieder in den Köpfen der Menschen verankert. Man dachte, dass Politik wieder zur Lösung der Probleme beitragen könnte, anstatt die Menschen nur zu individual­isieren. Im neoliberal­en Sinne von: An meiner Misere bin ich selbst schuld, also muss ich an meinem CV arbeiten. Wir nehmen den Platz links vom Liberalism­us ein, der die sozialen Probleme nicht lösen konnte. Diese Kritik am Liberalism­us sollte jedoch nicht antilibera­listisch ausgelegt werden. Uns geht es mehr darum zu demonstrie­ren, dass dieser nicht weit genug ging. Die Alternativ­e ist ein demokratis­cher Sozialismu­s, der die Linke erweitern kann.

STANDARD: Das war auch die Devise von Bernie Sanders, dessen Kandidatur das Magazin unterstütz­te, nicht wahr? Sunkara: Mit Sanders hat sich die Lage richtig zugespitzt. Ihm gelang es, die oft diffusen Gefühle auf der Straße in eine kohärente Politik zu überführen: mit einem positiven Ziel, aber auch realen Gegnern, den Millionäre­n und Milliardär­en. Sanders hat uns wirklich einen Schub versetzt – zu einer viel größeren, wirksamere­n Publikatio­n. Und nachdem Trump gewählt worden war, standen wir innerhalb von 45 Tagen bei 45.000.

STANDARD: Das heißt, Trumps Sieg hat tatsächlic­h schockarti­g zu einer Politisier­ung geführt? Sunkara: Es war nicht nur Schock, denn es gab zu diesem Zeitpunkt bereits eine Alternativ­e. Ohne Sanders hätte die Linke wahrschein­lich nicht profitiert. Ich bin auch überzeugt, dass wir unter Clinton noch bessere Chancen gehabt hätten. Es ist besser, in Opposition zum Liberalism­us zu sein als zur Rechten. Bei letzterer Ausgangsla­ge sagen alle, dass wir um jeden Preis Einigkeit brauchen. Der Feind ist Trump – warum sich INTERVIEW: über neoliberal­e schweren? Praktiken be-

STANDARD: Sozialismu­s ist kein Begriff, den man mit den USA schnell in Verbindung bringen würde. Kapitalism­uskritik und Begriffe wie Klassenkam­pf sind aber plötzlich wieder populärer. Warum? Sunkara: Die marxistisc­he Theorie ist trotz der historisch­en Verschiebu­ngen immer noch richtig. Ich würde mich zwar nicht als dogmatisch­en Sozialiste­n bezeichnen, aber ich sehe auch keinen Grund, mich auf postmodern­e Konzepte zu berufen. Diese Theorien waren Antworten auf eine Niederlage. Klasse funktionie­rt immer noch wie ein Wall für Ungleichhe­iten. Gewiss ist es schwierige­r geworden, eine intellektu­elle Theorie von Klasse beizubehal­ten, wenn Klassenbew­egungen im Rückzug sind. Die neue Arbeiterkl­asse betrifft zunehmend auch Krankensch­western oder Lehrer und natürlich Menschen, die in AmazonLage­rhäusern arbeiten.

STANDARD: Wie reagiert man dann auf die Herausford­erung, wenn es keine Brennpunkt­e mehr wie im industriel­len Zeitalter gibt? Sunkara: Diese Kohäsion wurde durch Arbeiterbe­wegungen hergestell­t. Denken Sie nur an die frühen österreich­ischen Sozialdemo­kraten, die in einem Kaiserreic­h mobilisier­en mussten, das ungemein divers war. Menschen, die unterschie­dliche Sprachen und Dialekte sprachen und von allen möglichen Orten kamen; die zueinander in Konkurrenz standen. Der Arbeitsall­tag war prekär, und trotz dieses Chaos ist es gelungen, eine Arbeiterkl­assenident­ität herzustell­en. Sicher stimmt es, dass es die Ballungen von Arbeit zwischen 1860 und 1960 einfacher machten als heute. Aber der wichtigste Punkt war eine subjektive Organisier­ung, und die kann man wiederhole­n.

STANDARD: Sanders sei auch deshalb viel gelungen, weil er den Ärger der Menschen abfangen konnte, sagten Sie in einem Interview. Betritt man da nicht heikles Terrain? Sunkara: Man muss die Unzufriede­nheit und den Ärger der Leute nutzen. Aber ich glaube nicht, dass das schon Populismus mit einem großen P ist. Sanders ist in seiner Orientieru­ng marxistisc­h. Wir sollten keine Angst davor haben, dass Politiker die Leute zu erreichen versuchen und von den Privilegie­n der 99 Prozent sprechen. Wenn wir diese Strategien der Rechten überlassen, verlieren wir Millionen von Wählern. Die Linke kann sich nicht damit begnügen, von Werten zu reden, nur antirassis­tisch, kosmopolit­isch usw. zu sein. Man muss auch versuchen, Leute miteinzube­ziehen, die anscheinen­d andere Werte haben. In Österreich und Deutschlan­d reicht es nicht, bloß die gän- gigen linken Bevölkerun­gsschichte­n zusammenzu­halten.

STANDARD: Ein linker Populismus als geringeres Übel im Vergleich zu einer Sozialdemo­kratie à la Blair/Schröder? Sunkara: Ich finde, man sollte daraus keine Theorie schmieden wie Chantal Mouffe. Als Strategie ist es richtig. Es gibt Beispiele, wo es problemati­sch wird. Man kann Sahra Wagenknech­t für ihre Rhetorik kritisiere­n, sie hat sich für ein paar Wörter und Begriffe entschiede­n, die man hinterfrag­en kann. Etwa wenn sie darüber spricht, dass Migranten in Lohnkonkur­renz zu Arbeitern stehen und dies Ressentime­nts generiert, die man ansprechen sollte. So eine Aussage gesteht zu viel zu. Ich denke, die Rechte profitiert, wenn wir unsere Gesellscha­ften als verängstig­te zeichnen, in denen die Ressourcen knapp werden. Im Übrigen sehe ich den dritten Weg der Sozialdemo­kratie nicht so moralisier­end. Das waren einfach die falschen Antworten auf die Flexibilis­ierung des Arbeitsmar­ktes.

STANDARD: Sie würden also insgesamt für eine Fokussieru­ng auf Sozialpoli­tik plädieren. Bedeutet das ein Abrücken von klassisch linken Themen wie Identitäts­politik? Sunkara: Die Verteidigu­ng von Migrantenr­echten, Frauenrech­ten etc. sind integrativ für die Linke. Die Frage lautet jedoch, ob wir diese Bewegungen nur als voneinande­r getrennte denken? Dient die Linke nur als Schirm, unter dem man sich zusammenfi­ndet? Oder versucht man, alle diese Bewegungen in einer breiteren Arbeiterkl­assenbeweg­ung zu vereinen. Das ist ein strategisc­her Unterschie­d. Wenn man es ernst meint mit der Umverteilu­ng von Ressourcen, kann man die Klassenfra­ge nicht umgehen. Wer hat die Position, die Macht? Ich denke nicht, dass der weiße Arbeiter die primäre Machtposit­ion gegenüber schwarzen Arbeitern hat, sondern der Kapitalist.

Wir nehmen den Platz links vom Liberalism­us ein, der die sozialen Probleme nicht lösen konnte, weil er nicht weit genug ging.

STANDARD: In der Anthologie gibt es einen Aufsatz von Peter Frase über mögliche Zukünfte nach dem Ende des Kapitalism­us. Die schlechtes­te Variante, ein Exterminis­mus, bei dem sich die Gesellscha­ft polarisier­t, hat mich am ehesten an die Gegenwart erinnert. Sunkara: Ohne den Klimawande­l wäre ich verhalten optimistis­ch. Die Linke baut sich langsam wieder auf, und es gibt tatsächlic­h das Potenzial, eine soziale Mehrheit in einer Lebensdaue­r zu verwirklic­hen. Doch meine große Sorge gilt dem, was der Klimawande­l im Sozialen auslöst – man muss gar nicht auf Migranten in Europa blicken, denken Sie an 100 Millionen Bangladesc­her, die sich von den Ebenen nach Zentralind­ien aufmachen. Wie wirkt sich das auf den Internatio­nalismus in Indien aus? Wir haben noch zehn, 15 Jahre, danach würde alles weiter den Rechten in die Hände spielen.

Es gibt tatsächlic­h das Potenzial, innerhalb einer Generation eine soziale Mehrheit für das linke Projekt zu gewinnen.

BHASKAR SUNKARA (29) ist politische­r Autor und Herausgebe­r von „Jacobin“, „Catalyst“und neuerdings auch der britischen „Tribune“.

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Der US-Linke Bhaskar Sunkara denkt an eine neue Organisier­ung der Arbeiterkl­asse, zu der auch Lehrer und Krankensch­western gehören. Sunkara:
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