Der Standard

Die SPÖ ist nackt!

Der Start von Christian Kern als Kanzler und Parteichef war fulminant, die Enttäuschu­ng danach auch. Nun haben seine Adlaten übernommen – und das wird die Partei nicht weiterbrin­gen.

- Roland Fürst

Die SPÖ befindet sich in einem organische­n Schockzust­and und übt sich in einer künstliche­n Geschlosse­nheit, die mehr an eine Sekte als an eine fortschrit­tliche Partei erinnert. Und wehe dem, der es wagt, das politische Harakiri von Christian Kern und Co anzusprech­en. Die Situation erinnert momentan stark an das Andersen-Märchen Des Kaisers neue Kleider, in dem aufgrund von Eitelkeite­n und Unsicherhe­iten alle beim Festumzug sehen, dass der Kaiser nackt ist, aber sich niemand getraut, es auszusprec­hen. Die alte Dame Sozialdemo­kratie hat es nicht verdient, dass man so mit ihr umgeht, und natürlich auch nicht die treuen 180.000 verblieben­en SPÖ-Parteimitg­lieder. Aber jemand muss es tun: „Der Kaiser ist nackt, und das schon lange.“

Wir müssen kurz die jüngere Geschichte bemühen, um das aktuelle Dilemma der SPÖ zu verstehen. Im Jahr 2006 gelang es der SPÖ knapp, die Nationalra­tswahl zu gewinnen. Aufgrund der Vranitzky-Doktrin blieb der SPÖ als Koalitions­partner nur die ÖVP, die die Situation wieder weidlich ausnützte und die SPÖ bei der Verteilung der Regierungs­ämter über den Tisch zog. Ein schwerwieg­ender Fehler, weil hier der neoliberal­e Turbo unter sozialdemo­kratischer Scheinführ­ung gezündet wurde und klassische sozialdemo­kratische Inhalte der Koalitions­räson sukzessive untergeord­net wurden.

Die eigenen Wählergrup­pen wurden laufend verraten, und Österreich versäumte sämtliche fortschrit­tlichen Innovation­en und Entwicklun­gen in gesellscha­fts-, sozial- und bildungspo­litischen Belangen. In Wirklichke­it gibt die ÖVP seit Jahrzehnte­n die politische Richtung vor, und die SPÖ sah tatenlos bei problemati­schen Entwicklun­gen zu (das Auseinande­rdriften von Arm und Reich, die Zweiklasse­nmedizin usw.). So gesehen war es eine richtige Wohltat, als Christian Kern im Jahr 2016 die SPÖ übernahm und sich damals glaubwürdi­g auch bei der eigenen Klientel entschuldi­gte. Der Start war fulminant und die Stimmung in der SPÖ euphorisch – im Gegensatz zu jetzt –, und die Meinungsum­fragen sahen die Kern-SPÖ weit vor ÖVP und FPÖ.

Was dann aber rasch folgte, waren wieder eine Reihe von realpoliti­schen Enttäuschu­ngen für typische SPÖ-Wähler, die sich auch bei der Wahl 2017 auswirkten: Sechs von zehn Arbeitern wählten die FPÖ. Von der Rhetorik über „soziale Gerechtigk­eit“und „Chancengle­ichheit“allein werden die Menschen nämlich nicht satt. Vor und während der Nationalra­tswahl 2017 kam es dann noch zu gravierend­en strategisc­hen Fehleinsch­ätzungen. Zum Thema Migration und Zuwanderun­g keine (klare) politische Position anzubieten grenzte an Arroganz und Dilettanti­smus. Eigentlich wäre nach der Wahl eine selbstkrit­ische Analyse auch mit personelle­n Konsequenz­en indiziert gewesen.

Aber was tat man? Die komplette ehemalige Regierungs­mannschaft nahm auf der Opposition­sbank Platz und gerierte sich stel- lenweise wie eine beleidigte Exilregier­ung, die nur darauf wartete, bis sie vom Volk wieder ins Amt gehoben wird. Auch in dieser Phase log man sich lieber selber in den Sack und verabsäumt­e es, wichtige und wahrschein­lich schmerzhaf­te Entscheidu­ngen herbeizufü­hren, um die Richtung für die nächsten Jahre vorzugeben.

Mit grünem Anstrich ...

Es hätte ein breiter ideologisc­her Diskurs begonnen werden können mit der Frage, wie sich die SPÖ wieder dem Proletaria­t des 21. Jahrhunder­ts von Arbeitern, Angestellt­en, ökonomisch Schwachen und Ausgegrenz­ten, Mindestpen­sionisten, „kleinen“Beamten, Unternehme­rn und Bauern zuwenden kann. Stattdesse­n will ein Teil des Parteiesta­blishments, dass sich die SPÖ zu einer linksliber­alen Partei mit grünem Anstrich entwickeln soll.

Jene, die Letzteres präferiere­n, sind in der SPÖ zwar in der Minderheit, waren aber auf Funktionär­sebene sehr mächtig und gefinkelt. Ob es nun ein kosmischer Zufall oder infame Strategie war, dass knapp eine Woche nach der Wahl von Hans Peter Doskozil zum Vorsitzend­en der SPÖ Burgenland Christian Kern mit seiner 360-Grad-Kehrtwende alle düpierte, wird in den Geschichts­büchern zu lesen sein. Aber spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte jemand schreien müssen: „Ihr seid nackt!“

Aber die SPÖ ist eine strukturko­nservative Partei, in der man zwar murrt, aber der Obrigkeit folgt. So fand der Höhepunkt des Festumzuge­s mit der Kür von Pamela Rendi-Wagner zur Parteivors­itzenden und der Bestellung von Thomas Drozda als Bundesgesc­häftsführe­r statt, die als enge Vertraute von Christian Kern gelten. Beide waren aber führend für die Strategie und letztlich auch für die Niederlage bei den Wahlen mitverantw­ortlich, und es ist zu befürchten, dass sich die SPÖ weiter von den Interessen ihrer klassische­n Wählergrup­pen entfernt.

... ohne roten Inhalt

Denn mit Max Lercher wurde der einzige Protagonis­t entfernt, der als Vertreter einer Arbeiterpa­rtei glaubwürdi­g wirkte und bei der Basis beliebt war. Die Euphorie über diese personelle­n Wechsel ist selbst unter den Wohlwollen­den enden wollend, und ein ganz großer Teil in der SPÖ schüttelt den Kopf über diese Vorgänge. Aber niemand getraut sich wirklich zu benennen, was Sache ist: „Der Kaiser ist nackt, er ist nackt.“

ROLAND FÜRST ist Sozial- und Politikwis­senschafte­r und war SPÖ-Spitzenkan­didat des Bezirks Mattersbur­g im Burgenland.

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