Wie Grenze
Die Republik feiert ihren 100. Geburtstag, weswegen am 12. November 2018 das Haus der Geschichte Österreich am Heldenplatz eröffnet wird. Anlass genug für eine Sondierung der Befindlichkeiten des Landes: Monika Sommer, Heidemarie Uhl und Klaus Zeyringer h
Auf der Landkarte, die in meiner Volksschule in Lepena, im zweisprachigen Teil Südkärntens, an der Wand hing, legte sich die Grenze als rot-schwarze Kontur um den Bauch der Staatswolke, damit sich das, was Österreich ist, nicht in anderen Ländern auflöse. Sogleich bekam man eine Vorstellung davon, dass ein Staat den Verzicht auf die Grenze, das Ineinandergreifen von zwei getrennten Entitäten, die sich vereinigen könnten, fürchtet.
Bei einer Schulfeier, die an die Kärntner Volksabstimmung von 1920 erinnerte, bei der sich die Mehrheit der zweisprachigen Bevölkerung Südkärntens für den Verbleib bei Österreich ausgesprochen hatte, wurde uns erzählt, dass die Grenze, die Österreich vom damaligen Jugoslawien trennte, noch immer bedroht und es unsere Aufgabe sei, diese Grenze zu beschützen. Die Grenze zu Jugoslawien war nicht nur eine Demarkationslinie, die zwei Staaten und zwei unterschiedliche politische Systeme voneinander trennte, sie war vornehmlich ein Glaubensprinzip. Die Grenze zu Italien hingegen hatte in meiner Jugend eine andere Bedeutung, war weniger symbolisch aufgeladen. Sie galt allenfalls als aufgezwungen und somit verhandelbar, wenn auch nicht in absehbarer Zeit.
Einer Staatsgrenze musste man Respekt zollen. Das Passieren der Grenze glich einem Ritual. Näherte man sich einem Grenzübergang, musste man den Pass bereithalten und einverstanden sein, Wartezeiten auf sich zu nehmen oder von den Grenzbeamten misstrauisch gemustert zu werden. An der Grenze musste man sich un- behaglich fühlen und konnte auch ohne ersichtlichen Grund verdächtig scheinen. Dabei hatte man in Kärnten noch Glück und konnte die Staatsgrenze passieren. Im Osten Österreichs, am sogenannten Eisernen Vorhang, war das Überqueren der Grenze nicht vorgesehen. Der Grenzübertritt glich einem bürokratischen Hindernislauf.
Grenzenloser Konsum
Ich wuchs im Schattenhof einer Grenze auf und wurde gewahr, dass es neben der sichtbaren Grenze eine Grauzone mit unsichtbaren Grenzen gab, die mitten durchs Land verliefen. Diese Grenzen waren am schwierigsten zu überwinden, weil sie von den Menschen verinnerlicht wurden und dem Auge verborgen blieben. Ohne es zu wollen, konnte man ins Visier eines heimlichen Grenzpostens geraten, der einen nach nationalen, sprachlichen, politischen oder ideologischen Kriterien aussortierte oder einordnete. Da gab es kein Hin oder Her, kein Dazwischen, die Zuordnung erschien besiegelt, und wer das Sagen im Land hatte, legte auch die Kriterien fest. Die Kärntner Grenzwächter orientierten sich vornehmlich an der Sprache der Bevölkerung. Die Verwendung der slowenischen Sprache in der Öffentlichkeit galt lange Zeit, und gilt vereinzelt immer noch, als Grenzverletzung. Von den Kärntner Slowenen erhoffte sich die Politik, dass sie sich mit der Zeit von ihrer Muttersprache abgrenzen und zwischen sich und der slowenischen Sprache eine Grenze zum Zeichen der österreichischen Zugehörigkeit ziehen würden, und das, obwohl die Kärntner Slowenen Österreicher der ersten Stunde waren. In dieser Schule der Grenze erfasste ich, dass eine Grenze als Schutzwall für die staatseigenen Interessen nach außen und zur selben Zeit als Abgrenzung nach innen dienen kann. Sie grenzt im Inneren aus, was nicht im Interesse der politischen Macht ist, während sie vorgibt, den Staat zu schützen. Die Grenze gehört somit der Politik, sie ist ihr eigentliches Territorium. Sie feuert Wahlkämpfe und Wortschlachten an.
Es gibt zurzeit kaum ein Thema, das die öffentliche Diskussion mehr bestimmt als das Phänomen der Grenze. Im Zuge der Globalisierung und des europäischen Zusammenschlusses sind wir in den letzten zwei Jahrzehnten mit der Aufhebung staatlicher Grenzen konfrontiert gewesen. Wir konnten es kaum fassen und staunten, was plötzlich möglich wurde. Wir haben uns in der verlockenden Idee des grenzenlosen Konsums,
der grenzenlosen Kommunikation und des grenzenlosen Warenverkehrs eingerichtet, während die ältere Generation, die den Krieg erlebt hatte, von einer neu angebrochenen Friedenszeit träumen konnte.
Die europäischen Künstlerinnen und Künstler und nahezu alle philosophischen und kulturwissenschaftlichen Bereiche lieferten das ideelle Unterfutter für die gesellschaftsumspannende Idee des Abbaus von Grenzen.
Und nun, da sich die Folgen der wirtschaftlichen Globalisierung in allen ihren Schattierungen zeigen und unsere Gesellschaften vor völlig neue Anforderungen stellen, wird wieder laut und panisch nach Grenzen gerufen, um sich die verstörende Realität der Welt vom Leib zu halten. Was ist geschehen? Ist es wirklich nur die Migration, sind es wirklich die Flüchtlinge, die unsere Wahrnehmung verändert haben, oder haben wir erst jetzt begriffen, dass mit dem freien Spiel der Kräfte neue Pflichten, Aufgaben und Herausforderungen auf uns zukamen, dass unsere selbstverständlichen Privilegien infrage gestellt werden könnten?
Die Politik greift in einem letzten großen Aufbäumen gegen den selbst herbeigeführten Gestaltungsverlust wieder nach der Grenze, um zu schließen, was sie zuvor halbherzig geöffnet hat. Begriffe wie Obergrenze und Untergrenze, Grenzwerte und Grenzkontrolle, Befristungen, Abschiebungen, Abweisungen geistern durch unsere politische Öffentlichkeit. Was wir mit dem Beitritt zur Europäischen Union überwunden glaubten, kehrt als Wiedergängerin zurück. Die Grenze als Parole, als Kampfwort, wobei es jetzt immer weniger um die Grenze nach außen geht, zum Beispiel um eine effektive Kontrolle der Finanzströme, sondern in immer größerem Maße um die Grenze nach innen. Es geht um die symbolisch aufgeladene Grenze, um Fragen der Identität und der Zugehörigkeit von Menschen. Dem politischen Kontrollverlust begegnet man mit Abwehr – und Gewaltfantasien gegen die gewachsene Diversität in Europa, mit einem klassischen Ausweichmanöver, könnte man hinzufügen.
Dieser politische Szenenwechsel sollte uns mit größter Sorge erfüllen, da die Fragen der Identität des Menschen genuin kulturelle Fragen sind und vornehmlich mit kultureller Arbeit beantwortet werden können.
Grenzen und Missverständnisse zu überwinden erfordert Geduld und die Bereitschaft, über den eigenen Schatten zu springen. Diese Fertigkeiten müssen erprobt und gelernt werden. Wenn ich an das vereinigte Europa denke, steht uns die größte Aufgabe noch bevor, nämlich das Erlernen des Umgangs mit Unterschieden. Ein Dialog kann nicht einfach ausgerufen oder für beendet erklärt werden.
Er ist ein Prozess, der nur wirksam wird, wenn er von den Beteiligten mit Zuversicht und einer positiven Zukunftsperspektive ge- führt wird. Dann erst können Grenzen zu Begegnungsorten werden, zu Orten des Respekts und des Übergangs. Dann erst kann es zum Wechsel oder zum Austausch kommen, die Veränderung und gesellschaftlichen Wandel nach sich ziehen. Die Grenze ist im besten Fall eine Nahtstelle, an der man lernt zu unterscheiden. Maja Haderlap, geb. 1961 in Kärnten, ist eine österreichische Schriftstellerin. Sie gewann 2011 den Bachmann-Preis. Zuletzt erschien von ihr der Lyrikband „langer transit“(Wallstein, 2014).