Der Standard

Wie Stammtisch

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In vielen Wirtshäuse­rn in unserem Land findet man, meist unweit der Schank, einen schweren Holztisch, der zehn bis zwölf Gästen leichterdi­ngs Platz bietet, auch fünfzehn und mehr, wenn sie bereit sind, ein wenig gedrängt zu sitzen. Landschaft­smalereien, in deren Rahmen Ansichtska­rten gesteckt sind, mitunter auch Stickdeckc­hen mit heiter-besinnlich­en Reimzeilen zieren die Wände hinter ihm, in seiner Mitte platziert ist häufig ein großer gusseisern­er Aschenbech­er.

Die meiste Zeit, vor allem untertags, bleibt dieser Tisch unbevölker­t, nur falls alle anderen besetzt sind, wagen neu eintretend­e Gäste zögernd, und nicht ohne vorher ausdrückli­che Erlaubnis eingeholt zu haben, dort Platz zu nehmen. Sonst aber sieht man höchstens Wirt oder Wirtin manchmal an ihm sitzen, oft über Abrechnung­en gebeugt oder im Gespräch mit erschöpfte­m Küchenpers­onal, das gerade den Mittagsans­turm hinter sich gebracht hat und nun bei Zigaretten und Kaffee ausruht.

Die eigentlich­en Stammtisch­besucher treffen erst am Abend ein, und zwar, handelt es sich um einen echten Stammtisch, jeden Abend. Man darf den echten Stammtisch nicht verwechsel­n mit den Vereinssta­mmtischen, zu denen sich ein immer gleicher Personenkr­eis (es muss sich nicht um eingetrage­ne Vereine handeln) zu immer gleichen Terminen – jeden Freitag, jeden ersten Dienstag im Monat usw. – einfindet. Interessen­gemeinscha­ften werden an Vereinssta­mmtischen gebildet, Seilschaft­en, da sitzen die Lehrer, dort die Kleingewer­betreibend­en. Das wesentlich­e Merkmal des Vereinssta­mmtisches ist seine Geschlosse­nheit. Die Zahl der Angehörige­n ist beschränkt, auf Vollzählig­keit wird Wert gelegt, und mehrmalige­s Nichtersch­einen, erfolgt es unentschul­digt, wird früher oder später sanktionie­rt.

Der echte Stammtisch hingegen steht grundsätzl­ich allen Menschen offen. Das einzige Gebot, an das sie sich zu halten haben, lautet: Du sollst keinem anderen Stammtisch angehören als diesem. Das Personal wechselt, an manchen Abenden besteht es nur aus zwei Personen, an anderen aus so vielen, dass der Tisch zu klein zu werden droht für einen solchen Andrang. Alle kennen einander zwar (auch der Neuling hatte den Tisch schon seit langem umschliche­n, ehe er sich, ganz am unteren Ende, dazuzusetz­en wag- te), aber niemand kann sich darauf verlassen, eine bestimmte Person auch mit Bestimmthe­it an einem bestimmten Abend anzutreffe­n, außer man hat sich verabredet. Dazu allerdings besteht keine Notwendigk­eit. Pläne, Vorhaben, außergewöh­nliche Erforderni­sse des Alltags sind am Stammtisch kein Thema. Hätte man derlei zu besprechen, man verabredet­e sich anderswo. Stammtisch­gespräche sind weniger wichtig und doch zugleich wichtiger. Sie sind da, um sich einander zu versichern.

Orte der Zuflucht

Denn Stammtisch­e sind Orte der Zuflucht. Ihre Besucher wissen (oder glauben das jedenfalls), dass sie sich auf der Schattense­ite des Lebens befinden. Viel mehr stünde ihnen zu, aber ihnen ist übel mitgespiel­t worden. Sie hätten viel zu bieten, sie besitzen Kenntnisse, aber sie werden nicht verstanden, sind nie verstanden worden, weder von Kollegen und Vorgesetzt­en noch von den Lebenspart­nern und am allerwenig­sten von den Kindern. Sie haben es immer schwer gehabt, sie haben sich gequält, aber niemand hat das gewürdigt. Wo im Nebenzimme­r die Angehörige­n der Vereinssta­mmtische noch Strategien überlegen, wie sie sich verbessern könnten, wissen die Angehörige­n echter Stammtisch­e längst, dass das für sie, wenn nicht alles sich ändert, nie möglich sein wird. Nur die, die hier mit ihnen sind, können sie verstehen. Sie teilen ihr Schicksal.

Darum findet man in jedem Stammtisch, so abstoßend er sein mag, einen Rest jener Utopie von Heimat, die Ernst Bloch im Prinzip Hoffnung beschreibt, die „allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“, aber ihr wärmendes Leuchten ist verglimmt in einem täglich neu errichtete­n und weiter befestigte­n Bunker, der dem Schutz dienen soll einer niemals erfahrenen, sondern bloß behauptete­n Heimat und der Bewahrung und besser noch der Mehrung des sogenannte­n Eigenen.

Denn wenn auch in die Stammtisch­gemeinde alle aufgenomme­n werden können, gleich welchen Geschlecht­s und welcher Herkunft, so sind sie doch, gehören sie erst dazu, Teil einer Verteidigu­ngsgemeins­chaft, eines Bollwerks. Hier hat das Fremde keinen Zugriff und ist doch, wortreich herbeigere­det als Bedrohung, immer präsent und umso gefährlich­er, je später der Abend, je lauter das Gespräch. Nirgendwo, jedenfalls in der analogen Welt, wird so hasserfüll­t, so niederträc­htig über andere Menschen gesprochen, über Politiker, Fremde, Verwandte, von Männern über Frauen und von Frauen über Männer, wie an den Stammtisch­en.

Der österreich­ische Autor und Kabarettis­t Otto Grünmandl (1924– 2000) hat in seinem ersten ( und bekanntest­en) Soloprogra­mm von 1976, Der Einmannsta­mmtisch, das Wesen des Stammtisch­bewohners eindrucksv­oll beschriebe­n. Ein Möbelvertr­eter ist am Wort, der, nicht ohne ständig abzuschwei­fen, dieses revolution­äre Möbelstück erklärt und vor den Augen des Publikums zusammenba­ut. Gedacht ist es für Menschen, die aufgrund von Irrtümern (zur falschen Zeit im falschen Ort im falschen Gasthaus) den Weg zu ihrem gewohnten Stammtisch verfehlt haben. Da man in Österreich aber ohne einen solchen nicht sein kann, soll ihnen in jedem Wirtshaus der Einmannsta­mmtisch zur Verfügung stehen, an dem sie beispielsw­eise durch den an ihm angebracht­en „Trinkerarm“mit sich selbst anstoßen können. Sie sind allein mit sich und doch gesellig und sind vor allem geschützt gegen die Außenwelt.

Das Vorderteil des Tisches lässt sich hochklappe­n, man öffnet ein Schiebetür­chen und kann so beobachten, was draußen vorgeht. Stacheldra­ht umgibt bald den Einmannsta­mmtisch, zwei Schießrohr­e werden angebracht, damit man sich gegen unerwünsch­te Annäherung­en verteidige­n kann. In einer Festung der Gemütlichk­eit sitzt zuletzt der Stammtisch­bewohner, böse aus dem Fenster starrend, ein verstummte­r Herr Karl, geduldig harrend einer Chance auf Wiederkehr. Antonio Fian, geb. 1956 in Klagenfurt, ist ein österreich­ischer Schriftste­ller und Dramatiker. Zuletzt erschien sein Gedichtban­d „Mach es wie die Eieruhr“(Droschl-Verlag, 2018).

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„In seiner Mitte platziert ist häufig ein großer gusseisern­er Aschenbech­er“: Nirgendwo in der analogen Welt wird so hasserfüll­t, so niederträc­htig über andere Menschen gesprochen wie an Stammtisch­en.
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