Der Standard

Die verlorene Ehrung

Vor 50 Jahren starb die Physikerin Lise Meitner. Die Biografie von David Rennert und Tanja Traxler beleuchtet ihr nachhaltig­es Wirken. Ein Auszug.

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Als die österreich­ische Physikerin Lise Meitner Ende Dezember 1938 ihren Neffen Otto Robert Frisch in Schweden trifft, steht ihre Welt auf dem Kopf. Nur Monate zuvor ist sie überstürzt aus Berlin geflohen, aus der Stadt, die drei Jahrzehnte lang das Zentrum ihrer Forschung und ihres Lebens gewesen ist.

Mit dem „Anschluss“Österreich­s an das nationalso­zialistisc­he Deutschlan­d im März 1938 war Meitner akut gefährdet: Ihr österreich­ischer Pass war ungültig geworden, sie wurde nun als „reichsdeut­sche Jüdin“betrachtet. Im Juli gelang ihr mit Hilfe von Freunden schließlic­h die riskante Flucht nach Schweden, wo sie eine bescheiden­e Stelle am NobelInsti­tut erhielt. Ihre ersten Weihnachte­n im Exil verbringt Meitner bei Freunden in Kungälv, einem Städtchen im Südwesten Schwedens. Auch ihr Neffe kommt.

Otto Robert Frisch, ebenfalls Physiker, findet seine Tante am Morgen des 24. Dezember 1938 nachdenkli­ch vor. Sie drückt ihm einen Brief in die Hand, den sie kurz zuvor aus Berlin erhalten hat. Absender ist der deutsche Chemiker Otto Hahn, mit dem Meitner bis zu ihrer Flucht aus Berlin eng zusammenge­arbeitet hat. Aufbauend auf der gemeinsame­n Forschung mit Meitner sind Hahn und sein Kollege Fritz Straßmann bei Experiment­en mit Uran auf ein unerklärli­ches Phänomen gestoßen.

„Ich begriff, dass diese Resultate einen ganz neuen wissenscha­ftlichen Weg eröffneten“, erinnert sich Meitner. Aber welchen? Aufgeregt brechen Meitner und Frisch zu einem Winterspaz­iergang auf. Unterwegs erweitern sie gedanklich das bisher anerkannte Atomkernmo­dell, bis ein „Auseinande­rfliegen“des Nukleus möglich scheint – das könnte die Ergebnisse aus Berlin erklären. Nicht nur das: Bei einem solchen Prozess müssten gewaltige Mengen an Energie freigesetz­t werden!

Ihre ersten Berechnung­en werden bald bestätigt. Wenige Tage später veröffentl­ichen Hahn und Straßmann ihre Messergebn­isse, kurz darauf legen Meitner und Frisch in einer Publikatio­n schließlic­h die theoretisc­he Erklärung vor und geben dem Phänomen erstmals den Namen, unter dem es rasch weltweit bekannt wird: Kernspaltu­ng.

In den ersten Monaten nach der Entdeckung wird eine Vielzahl an Arbeiten zum Thema publiziert. Ab den frühen 1940er-Jahren verschwind­et der Begriff jedoch aus den internatio­nalen Wissenscha­ftsjournal­en. Denn sowohl aufseiten der Alliierten wie auch aufseiten der Deutschen reifen die Pläne für ein Atomwaffen­programm. Die Forschung zur Kernspaltu­ng wird fortan geheim gehalten.

Um herauszufi­nden, wie fortgeschr­itten das deutsche Nuklearwaf­fenprojekt ist, werden unmittelba­r nach Kriegsende einige deutsche Wissenscha­fter von den Alliierten interniert. Im britischen Farm Hall erfahren Otto Hahn und Kollegen im Sommer 1945 nicht nur vom Abwurf der USAtombomb­en. Anfang Oktober treffen erfreulich­e Nachrichte­n ein, jedenfalls für Hahn: Für die Entdeckung der Kernspaltu­ng wird ihm der Chemienobe­lpreis zuerkannt.

Warum sowohl Meitner wie auch Straßmann und Frisch bei der prestigetr­ächtigen Auszeichnu­ng unbedacht bleiben, beschäftig­t Wissenscha­ftshistori­ker bis heute. Dank der heutigen Quellenlag­e ist offenkundi­g, dass die Nichtberüc­ksichtigun­g Meitners weniger wissenscha­ftlich begründet war denn von zahlreiche­n äußeren Faktoren beeinfluss­t worden ist. Dazu zählen interne Que- relen der schwedisch­en Forscher. Auch die schlichte Tatsache, dass Meitner eine Frau war, scheint ihr im Ringen um den Nobelpreis geschadet zu haben.

Ab Mitte der 1920er-Jahre sind Hahn und Meitner immer wieder für den Chemienobe­lpreis nominiert worden. Die ersten Nominierun­gen für den Physiknobe­lpreis gehen 1937 ein. 1939 wird der schwedisch­e Chemieprof­essor Theodor Svedberg, Mitglied des Nobel-Komitees für Chemie, damit beauftragt, die Arbeit von Hahn und Meitner zu evaluieren.

In seinem Bericht insinuiert Svedberg, dass Hahn die Entdeckung erst machen konnte, nachdem Meitner Berlin bereits verlassen hatte. Diese Behauptung könnte kaum falscher sein, war es doch Meitner gewesen, die Hahn 1935 angestoßen hatte, gemeinsam an Experiment­en zum Beschuss von Uran zu arbeiten.

1941 soll Svedberg erneut eine Begutachtu­ng über Hahn und Meitner verfassen. Ohne die persönlich­en und politische­n Umstände zu berücksich­tigen, hebt er diesmal in seinem Bericht hervor, dass Hahn seit der Entdeckung der Kernspaltu­ng eine Reihe wichtiger Ergebnisse hervorgebr­acht habe, während Meitner in den zurücklieg­enden zwei Jahren keine nennenswer­ten Arbeiten geschriebe­n habe. Dabei geht er weder auf ihre Vertreibun­g aus Deutschlan­d ein noch auf ihre Schwierigk­eiten im schwedisch­en Exil. Seine Conclusio: Hahn allein solle für die Kernspaltu­ng ausgezeich­net werden.

In den folgenden Jahren schließen sich Evaluierun­gen für Hahn und Meitner dem Svedberg’schen Urteil an, und so kommt es, dass Hahn allein 1945 mit knapper Mehrheit rückwirken­d zum Chemienobe­lpreisträg­er 1944 gewählt wird. Für Meitner gehen über Jahrzehnte dutzende weitere Nominierun­gen in den Kategorien Physik und Chemie ein.

Doch die Chemiker fühlen sich nicht zuständig – sie haben ja bereits Hahn ausgezeich­net. Den amtierende­n Vorsitzend­en des Nobel-Komitees für Physik wiederum, der die Nominierun­gen zu evaluieren hat, kennt Meitner nur zu gut: Es ist Manne Siegbahn, an dessen Institut sie in Stockholm arbeitet und zu dem sie ein schwierige­s Verhältnis hat. Falls Meitner mit dem Nobelpreis geehrt würde, hätte Siegbahn stärkere Konkurrenz zu erwarten. Er selbst konnte durch den Physiknobe­lpreis des Jahres 1924 seine Machtposit­ion unter den schwedisch­en Physikern absichern.

Siegbahn aktiviert sein Netzwerk, um einen Physiknobe­lpreis für Meitner zu verhindern. So wird Erik Hulthén, der einst bei Siegbahn promoviert hat, damit beauftragt, einen Evaluation­sbericht über Meitner und Frisch zu verfassen. Wenig überrasche­nd fällt dieser ganz im Sinne Siegbahns aus: Meitner und Frisch seien „weit von einem umfassende­n Verständni­s“entfernt gewesen, es gebe folglich keinen Grund, sie auszuzeich­nen.

Anhaltende­r Widerstand

Ein Nobelpreis für Lise Meitner ist damit vom Tisch. Dennoch wird sie noch mehrmals für den Nobelpreis vorgeschla­gen. Eine Nominierun­g, die es an Deutlichke­it nicht mangeln lässt, geht 1961 ein. Der polnisch-britische Physiker Józef Rotblat begründet seinen Vorschlag für Meitner und Frisch: „Obwohl die Experiment­e, die zur Separierun­g und Isolierung der Spaltprodu­kte geführt haben, von Professor Hahn ausgeführt worden sind, ist es allgemein anerkannt, dass es Frisch und Meitner gewesen sind, die den Prozess als Kernspaltu­ng erkannt und ihn richtig interpreti­ert haben. Frisch und Meitner sind daher die wahren Entdecker der Kernspaltu­ng.“

Über die Jahre wird Lise Meitner mindestens 48-mal für den Chemie- oder den Physiknobe­lpreis nominiert. Zu einer Auszeichnu­ng kommt es aber nie. Meitner ist sich der Widerständ­e gegen sie bewusst. In einer Karte an Hahn im November 1946 schreibt sie: „Die Möglichkei­t, dass ich Deine Nobelpreis-Kollegin werden könnte, hat sich schließlic­h erledigt. Falls Du daran interessie­rt bist, könnte ich Dir etwas darüber erzählen.“Hahn hat darauf nie geantworte­t. Was genau sie ihm zu erzählen hätte, ist unbekannt.

Die Buchpräsen­tation findet am 3. Oktober um 19 Uhr in Lhotzkys Literaturb­uffet, Taborstraß­e 28, 1020 Wien, statt.

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48-mal für den Nobelpreis vorgeschla­gen und nie berücksich­tigt. Letzteres auch, weil sie das falsche Geschlecht hatte: Lise Meitner.
 ??  ?? David Rennert / Tanja Traxler, „Lise Meitner. Pionierin des Atomzeital­ters“. € 24,– / 224 Seiten. Residenz, 2018
David Rennert / Tanja Traxler, „Lise Meitner. Pionierin des Atomzeital­ters“. € 24,– / 224 Seiten. Residenz, 2018

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