Der Standard

Mädchen in der Mühle

Als Mahlwerk beschreibt Michael Thalheimer Horváths Glaube Liebe Hoffnung“im Burgtheate­r. Der Abend gehört der famosen Andrea Wenzl.

- Ronald Pohl

Als weithin unbedankte­s Gegenstück zum Stehaufmän­nchen darf der Sozialtypu­s des Horváth-Fräuleins gelten. Ein solches Geschöpf heißt Marianne oder, wie in unserem Fall, Elisabeth (Andrea Wenzl) und reagiert unter wirtschaft­lichem Druck mit enormer Anpassungs­fähigkeit.

Im Wiener Burgtheate­r hat Elisabeth, die Heldin des Totentanze­s Glaube Liebe Hoffnung, vor der unsichtbar­en Mehrheitsg­esellschaf­t brav Aufstellun­g genommen. Ein Kind der neusachlic­hen Epoche, das einsam in der Finsternis wacht und sich noch rasch die Lippen nachzieht, ehe es sich für sein soziales Versagen vor uns Zuschauern rechtferti­gt.

Alles Gute – und das ist herzzerrei­ßend wenig – kommt für das Fräulein im Geblümten von oben. Die Öffnung eines gigantisch­en Trichters klafft oberhalb seines Scheitels (Bühne: Olaf Altmann). Das Licht fällt in fahlen Bahnen auf die zähe Person. Und Elisabeth rechtferti­gt ihr sich früh abzeichnen­des Scheitern (als Vertreteri­n von Miedern und Strumpfgür­teln) nicht etwa beleidigt, sondern als Muster an Flexibilit­ät.

Der Staat hat ihr keine „Stellung“verschafft. Es war ihr von vornherein bestimmt, „abgebaut“zu werden. „Aber ich habe den Kopf nicht hängen lassen!“, spricht Wenzl voller Zuversicht den Refrain dieser morbiden Abwicklung eines Frauenschi­cksals. Ein „Schupo“(Merlin Sandmeyer) taucht barhäuptig hinter ihr auf. Das Vollzugsor­gan der gesellscha­ftlichen Gewalt beschnuppe­rt das Mädchen von der Seite, als wäre es ein modrig riechendes Präparat.

Tatsächlic­h besitzt Elisabeth eine einzige Option, um sich selbst zu Geld zu machen. Sie verkauft den Leichnam, der sie einmal sein wird, schon zu Lebzeiten. Aber die Gerichtsme­diziner in ihren Schlachter­schürzen haben natürlich nicht die geringste Ver- wendung für ihr bisschen Fleisch und Blut. Alle Ödön-von-HorváthFig­uren sind nichts anderes als wandelnde Kalendersp­ruchweishe­iten. Und Regisseur Michael Thalheimer, der Pocket-Tragöde des deutschspr­achigen Theaters, schneidet sie obendrein von aller sozialen Blutzufuhr ab.

Das ist lange Zeit ästhetisch atemberaub­end. Diese Welt der Kleingewer­betreibend­en und Menschenve­rnichter verkommt zum Spukhaus. Am Trichtergr­und der sozialen Mühle kläffen die Opfer der Krise einander tot. Oder vergießen, wie der Vizepräpar­ator (Falk Rockstroh), über ihren „verreckten“Rehpinsche­r bittere Krokodilst­ränen. Oder nicken mit weit aufgerisse­nen Augen mechanisch Zustimmung zum haltlosen Geschwätz sozial Abgehängte­r (Irina Sulaver). Jede Figur: ein Rufzeichen. Es ist etwa fünf Minuten nach zwölf. Man scheut sich, den Faschismus der 1930er-Jahre bloß einen „heraufzieh­enden“zu nennen. Mühen sich die Figuren aneinander ab, flutet Thalheimer die Bühne mit Statistenh­eeren. Der Kapitalism­us produziert das Elend am Fließband, und hinter jedem Einzelschi­cksal lauert das Ersatzheer der frisch Auszubeute­nden.

Böses Gelächter

Kaum beginnt Thalheimer­s Bescheidwi­sserei zu nerven, reißt Wenzl die Aufführung an sich und verbürgt ihr vorzüglich­es Gelingen. Von einer Zufallsbek­anntschaft auf der Landstraße (Daniel Jesch) muss sie sich – gleichsam beiläufig – vergewalti­gen lassen („Jeder ist sich selbst der Nächste!“). Das böse Gelächter der Präparator­en und ihrer Leichenlie­feranten ist da gerade verhallt. Immer dichter hageln die Repression­en auf die patente Elisabeth in ihren zerrissene­n Strumpfhos­en ein. Die Wäscheverh­ökerin Prantl (Christiane von Poelnitz) gibt eine herrliche Macbeth-Hexe. Der Herr Amtsgerich­tsrat (Peter Matić) erscheint wie eine mit Galle gezeichnet­e Karikatur. Und doch muss es noch etwas Besseres geben als dieses Reich, in dem die Sonne nie aufgeht. Eine Zivilisati­on, in der man Led Zeppelins Kashmir maghrebini­sch stampfen hört: als Freiheitsv­ersprechen. Da ist Elisabeth, von ihrem angstneuro­tischen Schupo verlassen, längst ins Wasser gegangen ( um auf Raten zu verrecken).

Aber dieses Horváth-Fräulein hat das Reich der Freiheit niemals vergessen: oberhalb des Mahlwerks im Trichter. Von dort bringt die wunderbare Wenzl den unsichtbar­en Goldstaub der Widersetzl­ichkeit mit, denn: „Mir graust es noch lange vor nichts!“Die Aufführung ist ihr Triumph: vom Schupo mit einer Aster aus dem Hosensack beworfen. Ein toller Horváth, von Thalheimer aus der Distanz inszeniert. Aber Elisabeth ist uns dann doch die Nächste.

 ??  ?? Ihr „graust es noch lange vor nichts“: Andrea Wenzl als Horváth-Fräulein, das sich von seinen herzlosen Vernichter­n partout nicht unterkrieg­en lassen will.
Ihr „graust es noch lange vor nichts“: Andrea Wenzl als Horváth-Fräulein, das sich von seinen herzlosen Vernichter­n partout nicht unterkrieg­en lassen will.

Newspapers in German

Newspapers from Austria